Die Gutachterin
Tod des Opfers.
Dann wurde der psychiatrische Gutachter aufgerufen. Professor Lüttker machte es kürzer. Bei der Kindheit und der Entwicklungsgeschichte des Angeklagten hielt er sich nicht allzu lange auf. Daß das Fehlen des Vaters oder der Einfluß der Mutter, besonders ihr Wunsch, in ihrem Sohn ein Mädchen zu sehen, besonders gravierend gewesen sei oder sogar schwere Störungen hervorgerufen habe, dieser Darstellung des Verteidigers könne er auf keinen Fall folgen. Tausende alleinerziehende Mütter wünschten sich statt eines Jungen ein Mädchen. Wenn diese Kinder sich alle so aufführten wie der Angeklagte, dann sei die BRD nichts anderes als ein sadistisches Schlachthaus.
Der Staatsanwalt nickte zufrieden, und das Publikum fuhr aus seiner Schläfrigkeit wieder hoch und begann mit den Absätzen zu trommeln.
»Nein – solche Entwicklungen regulieren sich im allgemeinen von selbst.« Auch eine frühe Fixierung auf besondere, abartige Sexualpraktiken oder eine Konfiguration derartiger Dinge liege bei dem Angeklagten nicht vor. Auch als Pädophiler, als Mensch, der sich gerne Kindern nähert und damit seine Libido zu befriedigen trachte, sei er nicht einzustufen …
»Diesen Ludwig Ladowsky«, sagte Lüttker und sah die Richter an, »kann man sogar als einen gestandenen Mann bezeichnen. Nur eben als einen, der seinen Sexualtrieb mit Mordgelüsten verbunden hat. Und die hat er unerbittlich, planvoll und grausam verfolgt und ist somit für voll schuldfähig zu betrachten.«
Ein schweres, bleiernes Schweigen folgte den Worten.
Der Angeklagte in seiner Kabine hatte sich nicht ein einziges Mal gerührt.
Landgerichtsdirektor Martin schob den Kopf vor: »Herr Ladowsky! Ich habe Ihnen ja nun schon einige Male gesagt, daß Ihnen am Ende der Zeugen- oder Sachverständigenbefragungen das Recht zu einer Aussage zusteht. – Wollen Sie etwas sagen?«
Ladowsky schüttelte den Kopf.
In der Sitzungspause nahm Martin den Verteidiger zur Seite.
»Herr Reuter, haben Sie den Angeklagten eigentlich darauf getrimmt, kein Sterbenswörtchen zu sagen?«
Reuter sah Martin nur an und schwieg. Es war ein ziemlich wirkungsvolles Schweigen.
»Damit wir uns verstehen, Herr Professor, meine Bemerkung zielt selbstverständlich nicht darauf ab, Ihre Verteidigungsstrategie zu beeinflussen.«
»Das weiß ich, Herr Landgerichtsdirektor. Aber Sie können mir glauben, ich mache mir ebenfalls langsam Sorgen.«
»Sorgen? Und warum?«
»Auch Frau Dr. Reinhard hat die Absicht, heute eine Unterredung mit Ihnen zu suchen. Wir halten Ladowsky in höchstem Maß für suizidgefährdet.«
»Selbstmord? Meinen Sie, daß er in der Lage dazu wäre?«
»Das ist er, schon von seiner Charakterstruktur her. Wir haben es mit einem …«
Martin winkte ungeduldig ab: »Lassen wir das mal beiseite. Wir wollen ja gerade klären, mit wem wir es zu tun haben. Aber Sie wissen wie ich: Wenn eine solche Möglichkeit vorliegen würde oder auch nur ein entsprechender Verdacht bestünde, bin ich gehalten, mich sofort mit dem Vollzug in Verbindung zu setzen. Um Himmels willen, stellen Sie sich so etwas vor …«
»Das tue ich dauernd.«
Der Vorsitzende lächelte: »Dann wären Sie wohl viele Sorgen los?«
Reuter sah ihn an. »So kann man es natürlich auch betrachten, Herr Dr. Martin …«
* * *
»Herr Ladowsky, wir sind jetzt bei den Vorbereitungen Ihrer ersten Tat, die Sie an Silke Meyser verübten. Woher nahmen Sie das Geld für die Fahrt nach Hannover?«
Man mußte schon genau hinsehen, um zu bemerken, daß der Angeklagte die Lippen bewegt hatte.
»Ich habe nicht verstanden, Angeklagter … Und ich muß Sie schon bitten, unsere Geduld nicht zu sehr zu strapazieren und etwas lauter zu reden. Ich habe diese Aufforderung schon ein dutzendmal an Sie gerichtet – also bitte!«
Reuter hob die Hand. »Er meint, er bekam das Geld von seiner Mutter.«
»So, er meint? – Bekam er es nun, oder bekam er es nicht? Und wieviel war es?«
»Achthundert Mark.«
Nicht Reuter, Ludwig Ladowsky hatte geantwortet. Und diesmal überraschend klar und präzise.
»Es war die Summe, Herr Vorsitzender, die ihm seine Mutter für das Erlangen des Führerscheins übergeben hatte«, meldete sich der Anwalt. »Für den Angeklagten war die Situation zu Hause wieder einmal unerträglich geworden. Er wollte weg, um jeden Preis … Er hätte jeden Zug genommen. Aber er stieg in den nach Hannover.«
»Um ein Kind zu ermorden«, sagte Martin trocken.
Er blätterte in einem
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