Die Gutachterin
und wenn er sich nicht verdammt viel Mühe gab, würde er ihm durch die Lappen gehen, und er konnte ihn im Leichenwagen abliefern …
* * *
Thomas Berling kannte solche Gesichter.
Er wußte, was dies bedeutete: tief in die Höhlen eingesunkene Augäpfel mit zitternden Lidern, der Schweiß an Wange und Hals, die bläulich verfärbten Lippen, die weiße, graublaue Haut … nein, er brauchte den Puls nicht zu suchen, er hatte ihn unter Daumen und Zeigefinger. Hastig stieß er Ladowskys Hände weg und schob zwei Finger in die klaffende Öffnung der Schenkelwunde, um zu versuchen, die Arterie mit den Fingerspitzen abzuklemmen.
Er hatte es zuerst mit seinem Gürtel probiert, er hatte ein flaches Stück Holz gefunden, mit dem sich der Gürtel festzurren ließ, aber das Blut, das verdammte Mörderblut wollte nicht aufhören zu fließen. Ladowsky hatte gebrüllt, nur ein einziges Mal, kurz und schrill wie ein abgestochenes Ferkel …
»Halt die Schnauze! Halt bloß deine Schnauze!«
Berling wußte nicht, ob er es mitbekam. Dann hörte er nur noch ein Seufzen, und alles war ruhig. Ladowsky war ohnmächtig geworden.
Auch Berlings Daumen und Zeigefinger konnten nicht viel bewirken. Der Arteriendruck hatte nachgelassen, das Blut schien seine Kraft verloren zu haben.
Wieviel Blut besitzt ein Mensch?
Fünf bis sechs Liter, wußte Berling. Viel davon konnte nicht mehr in dem zitternden, kälter werdenden Körper kreisen. Dazu war der Blutsee zu unglaublich, so unglaublich wie alles andere: Seine schicken Kordhosen, sie waren von der roten Soße durchtränkt, dabei hatte er sie erst vor zwei Wochen gekauft, sie ändern lassen, und Erika hatte sie ihm dann noch nach Hause gebracht. Jetzt waren sie hinüber. Das Hemd ebenfalls. Und mit seinen Nerven stand es auch nicht mehr allzu gut. Wenn der dir jetzt abkratzt – Herrgott noch mal!
Doch Ladowsky lebte. So unwahrscheinlich es schien, er gab einen Ton von sich, leise, doch so klagend, daß Berling zusammenfuhr.
Er drückte den Daumen noch heftiger in die Wunde und blickte hoch. Der Mörder hatte den Kopf weit zurückgelegt. Seine Augen waren in dieser Sekunde nichts als weit geöffnete, grünliche, von einem milchigen Schleier bedeckte Pupillen. Doch er atmete. Er blutete kaum mehr – und lebte. Dazu dieser Blick.
Über die weißgraue Stirn liefen Schweißbäche, bahnten sich ihren Weg durch den Schmutz und das verkrustete Blut, das wohl von seinen Fingern stammte.
Und dann dieses Gesicht …
Für eine einzige, schreckliche Sekunde schob sich ein anderes Gesicht darüber, das Gesicht eines Mädchens, das Evi hieß und das nicht mehr zu erkennen war, weil ein Zementblock es in eine einzige Masse aus Fleisch und Knochensplittern verwandelt hatte. Das Gesicht dort jedoch war trotz allem das Gesicht eines sterbenden, hilflosen Jungen …
»Oh, Herrgott«, hörte er eine Stimme hinter sich. »So ein verdammter Scheiß! Was ist denn hier los?«
Erich Konnarz.
»Was Blöderes kannst du wohl nicht fragen? Ist Tim wenigstens da?«
»Ja.«
»Na, los schon, er soll gleich herkommen. Und du, lauf in die Gärtnerei und versuch von dort anzurufen. Hörst du, sag der Schönert, daß wir einen Schwerverletzten haben. Wir brauchen Klammern und Staubinden. Und wenn sie das haben, auch eine Infusion. Sag ihr, sie soll den Arzt holen und die Polizei und 'nen Hubschrauber bestellen. Ja Himmelarsch, bist du noch nicht weg? Bist du eigentlich blöd? Was ist denn mit dir los, hau ab, Mensch!«
Das tat er.
Thomas Berling aber blickte weiter auf die gezackten Wundränder, auf das Fleisch, das blasser und blasser wurde, und auf seinen Daumen. Das Blut floß nicht mehr. Vielleicht hatte Ladowsky gar keines mehr in den Adern …
Sie hatten ihn auf dem Bett festgeschnallt. Es blieb ihnen gar keine andere Wahl, denn kaum war Ludwig Ladowsky nach der Operation, einer stundenlangen Arbeit des Gefäßchirurgen, aus der Anästhesie erwacht, hatte er bei dem Versuch aufzustehen den Infusionsgalgen umgeworfen und war selbst zu Boden geknallt. Er hatte unverständliches Zeug geschrien, und zwei Pfleger des Gefängniskrankenhauses sowie der ihn bewachende Beamte waren nötig gewesen, um ihn wieder ins Bett zu bringen und ruhigzustellen.
Ruhig blieb er auch. Eisenpräparate, Vitamine, Mineralien und andere Aufbaupräparate befanden sich in der Infusionsflüssigkeit, die durch seine Adern rann, aber vor allem hatten sie eine erhebliche Dosis von Sedativen hineingemischt, und das war wohl besser so.
Weitere Kostenlose Bücher