Die Gutachterin
Ladowsky dämmerte weiter vor sich hin, wie seit dem Augenblick, als sie ihn aus dem Gewächshaus gezogen und auf eine Trage gelegt hatten, um ihn nach Roßberg in die Krankenstation zu bringen, wo ihm die erste Portion Blutplasma verabreicht wurde.
Er hatte unglaublich Glück gehabt: Eine Paraplegikeranstalt ist stets auf Notfälle eingerichtet, also gab es auf Roßberg gleich zwei Krankenschwestern, dazu war Frau Dr. Schönert, die stellvertretende Leiterin, nicht nur als Neurologin, sondern auch als Ärztin ausgebildet. Den Nottransport des Verletzten besorgte ein Hubschrauber der Bereitschaftspolizei …
Um die offizielle Verhaftung vorzunehmen, wollte der diensthabende Staatsanwalt an Bord und teilte das telefonisch mit. Aber soviel Platz gab es dann doch nicht in der Maschine, und so blieb dem Staatsanwalt nichts anderes übrig, als sich auf dem Hubschrauberlandeplatz die Beine in den Leib zu treten, bis die ›Puma‹ schließlich aufsetzte und die Trage mit Ladowsky herausgehievt wurde …
»Was glauben Sie, wann der Mann vernehmungsfähig sein wird?« fragte der Staatsanwalt den Notarzt, der den Verletzten begleitet hatte.
»Woher soll ich das wissen?«
»Ich denke, Sie sind Arzt.«
»O Gott!« Der Notarzt lief neben der Trage her.
»Aber Sie müssen doch 'ne ungefähre Ahnung haben, wie's mit dem Kerl steht?«
»Ahnung? Ahnung kann jeder haben. Was hilft denn schon Ahnung?«
Der Staatsanwalt hieß Oliver Gericke. Er war jung, nicht besonders talentiert, aber ungemein ehrgeizig und wie alle Staatsanwälte nicht gewillt, sich von irgend jemand schräg anreden zu lassen. Auch nicht von einem Notarzt. – Aber hier war offensichtlich nichts zu machen.
»Wissen Sie«, sagte Gericke, »das hier ist schon ein extrem wichtiger Fall.«
»Ach ja?« sagte der Doktor, sah ihn kurz an, schüttelte den Kopf und rannte weiter.
Der Staatsanwalt fuhr dem Krankenwagen hinterher zur Haftanstalt und ließ sich sofort beim Anstaltsleiter melden. Er fand einen bebrillten, dicklichen, graugesichtigen Mann mit schütterem Haupthaar hinter einem Schreibtisch vor, auf dem sich Aktenberge stapelten. Wie war der Name, der auf dem Schild an der Tür gestanden hatte? Oberamtmann Kanitz.
»Herr Kanitz, tut mir leid, wenn ich störe. Ich heiße Gericke, bin von der Staatsanwaltsbereitschaft in Frankfurt und bringe den Haftbefehl Ladowsky.«
Kanitz stand mühsam auf und zog den Gürtel enger, der seine ausgebeulte Jeans hielt. Gericke verkniff sich einen Kommentar, aber daß der Leiter hier darauf verzichtete, die Einlieferung eines derartig wichtigen Gefangenen persönlich zu überwachen, irritierte ihn schon.
»Kann ich mich setzen?«
»Aber ich bitte Sie.« Kanitz deutete auf den Besucherstuhl: Abgeschabtes Weidengeflecht, zierlich und leicht; sicher deshalb, vermutete Gericke, weil ein durchdrehender Gefangener damit kaum dem Chef den Schädel zertrümmern konnte.
Der Staatsanwalt schlug lässig die Beine übereinander. »Dieser Fall, Herr Kanitz, der hat schon ein besonderes Kaliber.«
Der Anstaltsleiter nickte erneut.
»Um klarzustellen, was ich damit meine – sehen Sie, auf dem Weg hierher nach Preungesheim erhielt ich nicht nur einen, sondern gleich zwei Anrufe. Beide kamen von meinem Chef, beziehungsweise von seinem Büro. Ich sage es nur, weil es symptomatisch für die Situation ist, Herr Kanitz. Wir werden unter Druck geraten, oder besser, der Fall hat uns bereits unter Druck gebracht.«
»Doch wohl eher die Presse, nicht wahr?« Kanitz erlaubte sich ein leises Lächeln.
»Natürlich, wer sonst? Es gibt nun mal solche und solche Fälle, und hier setzte der Generalstaatsanwalt auf Vorsicht: Ein Verrückter wie Ladowsky ist natürlich ein Fressen für alle Medien.«
»Ist er das?«
»Wie bitte?«
»Verrückt?«
Gericke bekam heiße Ohren. »Genau auf diese Frage wird es hinauslaufen, sicher. Aber im Moment«, sagte er scharf, »ist das kein Thema. Entscheidend für uns bleibt, daß wir uns in einem öffentlichen Umfeld bewegen, das auf jeden Fall verrückt spielt: Sexualmord, Triebtäter, Kindesentführer, Kindesmißbrauch, all die Prozesse, die dieses Jahr schon liefen, dieser ganze Internet-Mist, von Dutroux und den belgischen Skandalen will ich gar nicht anfangen – jedenfalls, seit den letzten Kindermorden haben die Medien ihr Thema gefunden. Und sie gehen dabei wirklich an die Grenzen.«
Wieder nickte Kanitz. Sein stilles, beobachtendes, abwägendes Zuwarten ging Gericke an die Nerven.
»Hören
Weitere Kostenlose Bücher