Die Gutachterin
mitzuerleben.
Und nun …
Nun war nichts mehr, nun war nur noch schwarze Nacht und Donnern um ihn, nun lag er in einem rasenden Zug, hilflos wie ein weggeworfener Lappen. Ohnmächtig vor Angst kroch er im Führerstand der Zugmaschine herum, während der ITT in wahnwitziger Geschwindigkeit weiter und weiter schoß, während sich sein weißer, gleißender Scheinwerferstrahl in das dunkle Loch fräste, das unermeßlich schien und von dem er doch wußte, während sein Herz wie rasend pumpte, daß es bald zu Ende sein würde.
»Hilfe!« brüllte Ludwig Ladowsky. »Anhalten! Anhalten …!«
Aber da war niemand, der anhalten konnte. Er war allein. Keiner der Knöpfe vor ihm ließ sich bewegen.
»Halt! – Oh, bitte, bitte … halt!«
Ein Halten gab es nicht, aber der Tunnel öffnete sich, mündete in eine riesige Halle, die ausgegossen war vom Scheinwerferlicht. Nie in seinem Leben hatte er ein Bild so klar erlebt, nie auch so hart und niederschmetternd eine Botschaft empfangen.
Da waren sie alle, die ihn gequält und verlacht hatten.
Da waren alle, die ihn haßten.
Sie standen in einer Art Halbkreis oder hockten am Boden: Ganz rechts Kämmerer, sein Chef, der ihn rausgeschmissen hatte: ›Weicheier und Flaschen kann ich nicht brauchen‹, daneben Ida, die Sekretärin, die ›Über-dich-lach-ich-mich-noch-tot-Ida‹, wie immer im Mini, wie immer mit hohen Absätzen, grell geschminkt und im Disco-Fummel, und da waren all die anderen Mädchen, die ihm ihre Verachtung zeigten, ihm ›Schoko-Bubi‹ nachschrien, ehe sie ihn abblitzen ließen, und hinter ihnen die Typen mit ihrem blöden Grinsen – in der Mitte aber, in der Mitte dieses Kreises kauerte seine Mutter auf dem Boden, eine Rotweinflasche hielt sie an der Brust, hielt sie wie ein Baby, starrte ihn an und schrie mit ihrer Kreischstimme: »Es mußte ja so kommen …! Hab' ich dir das nicht immer gesagt? Mußte ja … Hinter jedem Rock bist du her und weißt nicht, daß das nicht nur Sünde ist, nein, daß sie dich deswegen fertigmachen, hörst du, fertigmachen … fertigmachen …«
Fertigmachen … Das Wort war ein Echo, das in seinem Schädel hin und her rollte.
»Ich laß mich nicht …!« schrie Ludwig Ladowsky und kam nicht weiter.
Eine Hand schüttelte ihn.
Er versuchte die Hand wegzuschlagen. Es gelang ihm nicht. Er stöhnte und öffnete die Augen.
Maiersfeld, der Pfleger.
Und neben ihm stand ein zweiter Mann.
Ludwig Ladowsky weinte: »Laßt mich …! Laßt mich los!«
»Werd vernünftig, Ladowsky. Reiß dich zusammen, Herrgott noch mal«, sagte Maiersfeld.
Ladowsky drehte den Kopf weg und starrte verzweifelt zu den Gitterstäben des geöffneten Fensters.
»Was ist mit ihm?« hörte er die Stimme des zweiten Mannes. Er war groß, schlank und trug einen dunklen Mantel über seinem Anzug. »Geht es ihm schlecht?«
»Na ja, besonders gut drauf ist er nicht gerade.«
»Was soll das heißen?« Die Stimme war knapp, sachlich und hart. Ladowsky kannte solche Stimmen. Es waren Stimmen, die Gehorsam und Unterwerfung forderten.
»Bekommt er Medikamente?«
»Natürlich. Muß ja sein. Wir mußten ihn sogar schon anschnallen, Herr Oberstaatsanwalt.«
»Jedenfalls muß er in Form gebracht werden. Ich habe mit ihm zu reden … Wo ist denn der Arzt? Kann ich ihn sprechen?«
»Aber selbstverständlich, Herr Oberstaatsanwalt.«
»Sie fühlen sich also jetzt wieder ganz ordentlich?« Richard Saynfeldt sprach langsam und mit Betonung wie zu einem begriffsstutzigen Schüler: »Sie verstehen, was ich Ihnen sage, und sind auch in der Lage, meinen Fragen zu folgen und sie zu beantworten?«
Ladowskys verbundener Kopf nickte.
»Ich habe Sie auf Ihre Rechte hingewiesen, und Sie werden mir das mit Ihrer Unterschrift bestätigen. Aber das hat noch bis nachher Zeit.«
Wieder ein Nicken.
»Auf was es mir jetzt ankommt, Herr Ladowsky, ist etwas anderes. Sie sind sich dessen bewußt, was Sie getan haben, Sie wissen, was es bedeutet, einen Menschen zu töten, dazu noch auf diese Art?«
Ladowsky hob die Hand, als wolle er etwas sagen. Sein Oberkörper spannte sich. Richard Saynfeldt wartete. Was war jetzt wieder mit dem Kerl? Diese zitternde Unterlippe, dieser Blick … war der noch immer nicht okay?
»Ich nicht.«
»Was soll das heißen – ich nicht?«
»Ich hab's nicht getan. Bestimmt nicht … Ich doch nicht.«
»Herr Ladowsky …« Richard Saynfeldt schüttelte den Kopf: »Sehen Sie, mit dieser Tour wollen wir schon gar nicht anfangen. Wäre auch völlig
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