Die Gutachterin
»Ich mach' dir auch ein schönes Geschenk.« Das war am ersten Tag, als Maiersfeld bei ihm auf der Station auftauchte. An diesen beiden ersten Tagen brachte er kein Wort aus dem verbrannten Mund.
Maiersfeld hatte ihn nur blöd angeglotzt und dann den Kopf geschüttelt. Er war stehengeblieben und hatte sich wieder umgedreht. Einen Augenblick sah es so aus, als wolle er ihm sogar die Hand auf die Schulter legen – doch dann war er einfach weggegangen.
Er war nun mal der Püppchenkiller, der Kreuz-Mörder, der Kinderschänder, der Vergewaltiger, der Mörder, er war einfach das Letzte.
Ladowsky wußte es. Und er wußte auch: Da war nichts zu machen. Überhaupt nichts.
Er warf einen Blick hinüber zu den Gitterstäben und hinaus durchs Fenster auf die Tauben, die dort oben um die anderen Simse schwirrten. Dann legte er den Kopf zur Seite und schloß wieder die Augen, um in seine, die wahre Welt zurückzugleiten, die Welt, in die er gehörte … Doch er erreichte sie nicht. Sie war nicht da. Sie hatte sich aufgelöst hinter dünnen, schmutziggrauen Nebeln.
DU WIRST STERBEN, LUDI.
Schweigen. Nur dieser Nebel. Und niemand, der gegen die Stimme aufstand, niemand, der sich wehrte.
DU WIRST AUF DEM ELEKTRISCHEN STUHL VERRECKEN, LUDI. DA WERDEN SIE DICH FESSELN.
Das erschreckte ihn nicht. Daran hatte er schon gedacht, so oft hatte er es vor sich gesehen.
UND WEISST DU, DASS DU DA NICHT SOFORT VERRECKST? WEISST DU, WIE LANGE DAS DAUERT?
Natürlich wußte er es. In der Nachttischschublade seines Zimmers in der Jensstraße lagen sogar die Zeitungsartikel mit den Fotos, die er über Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl ausgeschnitten hatte. Und das war nicht alles. Er hatte sich sogar einmal ein Video einer Originalhinrichtung angesehen. Sie wurde an einem Schwarzen vollstreckt, der Hynes hieß. Dabei war auch die Hinrichtungszelle aufgenommen worden, und diesen Stuhl mit den Kabeln und den Eisenklappen an Knöcheln und Gelenken konnte man genau sehen. Wenn man sich draufsetzte, bekam man die Elektroden umgeschnallt, und draußen, in einem Nebenraum, versammelten sich die Hinrichtungszeugen. Vor der Tür des Gefängnisses gab es dann nochmals eine Menge von Leuten, Angehörige, Reporter oder Schaulustige – auch das Fernsehen war dabei, ein richtiges Volksfest … In der Nacht, in der Hynes' Hinrichtung gefilmt wurde, hatten sie sogar eine Würstchenbude aufgestellt, denn es war kalt gewesen dort in Alabama, und die Leute mußten ja schließlich was zu essen haben.
Auch den Henker sah man, wie er den Hebel umlegte. Und dann den Verurteilten, als er sich aufbäumte. Es würde eine winzige Flamme geben, sagte der Reporter, und ein wenig Rauch, dort, wo die dreitausend Volt das Fleisch verbrannten …
Das können sie ja alles machen, dachte Ludwig Ladowsky, bloß nicht mit mir.
Bei mir wird alles anders sein, ganz, ganz anders …
Er würde reden, er würde selbst noch aus dem Stuhl raus reden, mit Engelszungen, denn er hatte Gott dabei. Er hatte noch jeden überzeugt. Wenn er redete, wurden alle nachdenklich, und dann nickten sie, denn es gelang ihm, sich in jedes Wesen, sich nicht nur in die Seele, nein auch in die Haut eines anderen zu versetzen, es war ein Geschenk, auch bei seiner Mutter wußte er stets, was kam, er wußte ihre Gedanken im voraus, noch ehe sie sie aussprach, und er haßte es – aber dennoch: zur selben Sekunde sich klar zu werden, was der andere denkt oder empfindet, ist ein Geschenk. Und darin war er Weltmeister. Selbst einen Henker würde er dazu bringen, daß er die Hand fallen ließ, die töten sollte. Sicher würde er das … Hundertprozentig …
Und außerdem: In Deutschland gab's keine elektrischen Stühle …
Mit dieser tröstlichen Gewißheit schlief Ladowsky ein, um in einen Traum zu verfallen, der anders, schlimmer, furchtbarer war als die Visionen der nächtlichen Hinrichtung in Alabama, USA.
Es war ein unruhiger Schlaf. Er würde schreiend daraus erwachen. Die fließende, nebelhafte und angenehme Distanz, welche die Barbiturate vermittelten, zwei rosa Pillchen am Morgen, eine blaue zu Mittag und wieder die beiden rosafarbenen am Abend, war verschwunden. Gerade noch, zum Tode verurteilt, war er so mächtig gewesen. – SIE WERDEN ES NICHT TUN … NICHT, WEIL SIE ES NICHT WOLLEN, NEIN, WEIL SIE DAS NICHT KÖNNEN. – Gerade noch hatten sich vor dem düsteren Tor des Gefängnisses Hunderte von fremden Menschen eingefunden, um seinen Tod, in Wirklichkeit jedoch seinen Triumph
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