Die Gutachterin
Sexualtätern, nein, selbst den Sexualmördern gleichsam a priori die Unzurechnungsfähigkeit zu attestieren.«
Er pausierte erneut, suchte Augen, Gesichter. »Das Problem bleibt immer in der Fragestellung verborgen: Ist der Mann therapiefähig? Doch wer beurteilt das, ja urteilt darüber? Wer hat das Wissensmonopol in dieser entscheidenden Frage? Die Sachverständigen. – Und wohin Sachverständigenarbeit bei diesen Tätern führen kann, haben wir in schlimmen Fällen erleben müssen … Nicht nur Mörder diesen Schlages, jeder Mörder ist doch im Grunde unzurechnungsfähig und damit krank. Wie soll er therapiert werden? Die Antwort der Gesellschaft darauf, daß aus primitiven mörderischen Lustgefühlen einem Kind das Leben genommen wird, kann doch nicht sein: Wir schicken ihn in Kur!«
Und wie sie nickten. Das hatte er selten erlebt: nickende Journalisten.
»Bei Taten minderer Schwere wird Zwangstherapie vorgeschrieben. Gut, vielleicht bestehen Chancen, daß ein Mensch durch Training, oder wie man so was nennt, mit seiner abartigen Veranlagung fertig wird. Daß auch dem Mörder die Resozialisierung, also der Rückweg in die Gesellschaft ermöglicht wird, schreibt unsere Rechtsauffassung vor. Wie aber steht es bei den Sexualmördern? Mehr Therapieplätze werden gefordert. Was heißt das? Neue und vermehrte Ausbildung speziell geschulter Fachkräfte, ein Heer von Psychologen und Psychiatern, mit einem Wort eine kostenintensive Arbeit von gigantischem Ausmaß. Haben wir denn nicht schon genügend junge Kapitalverbrecher, bei denen noch die Chance der Resozialisierung besteht …? Alle diese Bemühungen, das sage ich Ihnen voraus, all die Gelder, die zur Verfügung gestellt werden müßten, würden von der Therapie der Sexualtäter weggefressen. Und dies in Zeiten der leeren Kassen. Die Lähmung, ja Zusammenbruch des Strafvollzugs in Kommunen und den Ländern – das wäre die Folge …«
* * *
Nie hatte Isabella Richard im Gericht erlebt, er hatte es ihr oft genug vorgeworfen – jetzt wußte sie, warum. Sie brauchte ja nur die Gesichter der Leute dort anzusehen. Reporter wollten das sein? Gebannt wie in Trance starrten sie ihn an.
Und was sagte er da?
»AUF WAS LÄUFT ES HINAUS …? DEN SEXUALMÖRDERN A PRIORI UNZURECHNUNGSFÄHIGKEIT ZU ATTESTIEREN …«
Mein Gott, sie hielt den Atem an, das konnte doch nicht wahr sein.
»WER HAT DAS WISSENSMONOPOL …? DIE GUTACHTER … WIR SCHICKEN DEN TÄTER IN KUR … EIN HEER VON PSYCHOLOGEN UND PSYCHIATERN … ZUSAMMENBRUCH DES STRAFVOLLZUGS …«
Sie hielt es nicht mehr aus und schaltete ab. Wie gelähmt stand sie da, die Handflächen auf das warme Gehäuse des Geräts gelegt, und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen.
Er war verrückt geworden.
Das waren keine Argumente, das hatte mit der Wirklichkeit nichts, überhaupt nichts zu tun, das war nichts anderes als Hohn und Verachtung gegenüber allen, die sich um Ausgleich bemühten … Es war Haß und Arroganz.
Die Arroganz der Ankläger, ›im Namen des Volkes‹ jede Rücksicht gegenüber dem Gesetz fallenzulassen – wer hatte das gesagt? Reuter. Und Reuter war es, der davon sprach, daß man sich auf die ›Seite der Menschlichkeit‹ schlagen müßte.
Sie handelte fast reflexhaft, ging zum Telefon, suchte Reuters Nummer heraus und wählte.
»Wie war der Name?« fragte die Kanzleivermittlung. »Frau Dr. Reinhard? – Ich weiß nicht, ob der Herr Professor im Augenblick …«
»Versuchen Sie es«, sagte sie kurz. Sie mußte mit ihm sprechen, mußte einfach. »Wir sind persönliche Bekannte. Sagen Sie ihm, daß Frau Dr. Reinhard am Apparat ist.«
Drei Sekunden später hörte sie seine Stimme.
»Sie sehen wohl auch fern?«
»Ja«, sagte sie. »Aber ich sitze zu Hause und nicht im Büro wie Sie.«
»Nun«, er kicherte, »mit irgendwas muß der Mensch sich unterhalten, nicht wahr? Und das war wirklich eine miese Schau. Das war Hollywood.«
»Finden Sie? Für mich war das finsterstes Deutschland … Nur Haß und Ignoranz.«
»Vielleicht. Das wundert mich ja gerade. Er hat natürlich in manchen Ansätzen recht, läßt sich noch nicht einmal bestreiten. Aber wie er dann loslegt – wirklich wie ein US-Attorney, ganz so, als wäre er kein braver deutscher Justizbeamter, sondern müsse zum Jahresende neu gewählt werden. – Na, da wird er Schwierigkeiten kriegen.«
»Hoffentlich.«
»Der Generalstaatsanwalt läßt ihm das nicht durchgehen. Kann er gar nicht. Saynfeldt muß sich da irgendwie reingesteigert
Weitere Kostenlose Bücher