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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ihrer Überlegung nicht. Im Dachgeschoß vernahm sie einen harten Schlag, dann ein Rumpeln. Die dünne Decke leitete das Geräusch weiter, und auch Frau Ladowsky hatte es gehört. Sie war zusammengefahren, riß den Kopf hoch und blickte nach oben: »Das is' er vielleicht …«
    »Wer?«
    »Der Ludwig«, flüsterte sie. »Ich hab' ihn rausgeschmissen, aber dann hat er sich immer wieder zurück in sein Zimmer geschlichen …«
    Sein Zimmer? Isas Absicht war gewesen, sie zu bitten, ihr dieses Zimmer zu zeigen, weil sie hoffte, dabei etwas Aufschlußreiches entdecken zu können.
    »Gehen wir doch mal hoch?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Da laß ich niemand rein.«
    »Aber Frau Ladowsky …«
    Sie drehte sich um, ging zu der steilen Treppe am Ende des Vorraums und stieg ächzend hoch. Isabella ließ sie einige Schritte gehen, dann folgte sie ihr so leise wie möglich. Die Frau war bereits oben. Isabella hörte, wie sich eine Tür öffnete, dann vernahm sie einen kurzen, erstickten Laut. Sie nahm die letzten drei Stufen, trat durch die geöffnete Tür und brauchte eine Sekunde, um sich von ihrem Erstaunen zu lösen: Das Zimmer war eine Mansarde und doch ein ziemlich großer Raum – aber dies war nicht das Zimmer eines Mannes, nein, dies war ein Kinderzimmer. In der Ecke waren glänzende, hohe Plastikspielzeugkisten aufgetürmt. Auf der Couch mit dem gelben Entchenmuster saß ein Teddy, an den Wänden hing Spielzeug und ein Hockeyschläger, das Unglaublichste aber waren die vier Mädchenpuppen, die sich auf einer Kinderbank drängten, eng aneinander, und die ihnen entgegenstarrten.
    Das Fenster stand offen. Im Gegensatz zu dem Raum unten schien hier alles blitzsauber. Doch der Geruch – dieser stechende Geruch nach Benzin, der den ganzen Raum erfüllte …
    »Was stinkt denn hier?«
    Im gleichen Herzschlag, als Isabella die Flasche auf dem dünnen, schäbigen Teppich ausgemacht hatte und den dunklen Fleck, der sich um sie ausbreitete, geschah es: Es war, als ob ein Funken auf sie zufliegen würde, dann ein erneutes Poltern – und eine riesige, gelbrote Feuerlohe erhob sich vor ihr, füllte den Raum, füllte ihr Bewußtsein … Hitze, eine tödliche Lohe schlug ihr entgegen, und vor all dem Licht sah sie Hilde Ladowsky mit hocherhobenen, grotesk abgespreizten Armen wie einen schwarzen Scherenschnitt vor sich …
    * * *
    Am 4. Mai 1993 wurde ein Spaziergänger am Rande eines Waldstücks südlich von Göttingen durch undeutliche, leise, von Schluchzen unterbrochene Hilferufe auf ein junges Mädchen aufmerksam, das sich, halb vom Gebüsch verborgen, auf dem Boden krümmte. Die Kleider der Zwölfjährigen waren zerrissen, ihr Gesicht von Schmutz, Tränen und Kratzspuren entstellt. Sie befand sich im Schock. Von Weinkrämpfen geschüttelt, war sie unfähig zu irgendeiner vernünftigen Antwort oder Erklärung.
    Der Name des Mädchens war Monika Sinter.
    Monika wurde in die Kinderklinik des Universitätskrankenhauses gebracht, und dort, als sie wieder einigermaßen Zusammenhänge erkennen und reagieren konnte, von Kommissar Berling, der damals noch in Göttingen Dienst tat, vernommen. Bei allem, was er schon erlebt hatte – diese Stunde am Krankenbett, hilflos auf einem harten Schemel hockend, wurde zu einer seiner härtesten Erfahrungen bei der Polizei.
    Noch schlimmer: Er versagte. Er versagte total. Er brachte keine einzige vernünftige Frage zuwege. Er schaffte es noch nicht einmal, in ihr Gesicht zu sehen, denn er stellte sich die ganze Zeit vor, was geschehen würde, wenn seine eigene Tochter in einem solchen Bett liegen und er sie mit derartigen Fragen bedrängen müßte …
    Schließlich ließ er sich ablösen.
    Am Tatort hatten sie nichts entdeckt außer Reifenspuren und ein paar abgeknickten Ästen. Er fuhr noch einmal hinaus – und hatte Glück: Halb vom Vorjahrslaub verdeckt, fand er ein Stück Papier, das Schreiben einer Reisezusatzversicherung. Es war zwar nur ein Rundschreiben, doch es trug eine EDV-Referenznummer.
    Und damit hatten sie ihn. Und auch noch am selben Tag.
    Trotz den elf Dienstjahren, die damals schon hinter Berling lagen, hatte er kaum Erfahrungen mit Tätern dieser Sorte. Exhibitionisten, Kinderanfasser oder irgendwelche durchgeknallten Erzieher oder Pfarrer fielen nicht in seinen Bereich, er hatte es mit Schwerkriminalität zu tun. Aber zweimal mußten sie eine Jugendbande ausheben, denen nicht nur Raubüberfälle, sondern auch Vergewaltigungsversuche vorgeworfen worden waren. Dann, im

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