Die Gutachterin
zwölf. Isabella Reinhard saß am Schreibtisch ihrer Wohnung, um noch die Berichte über die Patienten zu verfassen, mit denen sich Peter Aman während ihres Urlaubs befassen sollte.
Sie schrieb – und was sie sah, waren vorwurfsvolle Augen, leidgeprägte Gesichter, was sie hörte, waren Stimmen … Erwin Sommerers Stimme, die Stimme des Investmentbankers, der einen so stark depressiven Schub erlitten hatte, daß sie noch immer eine bedenkliche Selbstmordneigung an ihm erkannte; die Stimme der kleinen Helen Grünberg, zweimal kam sie wöchentlich in Behandlung, und das fiel ihr schwer genug, da sie aufgrund ihrer paranoiden Neigung, überall Gefahren zu sehen, sich meist in ihrer Wohnung einschloß; dann der Student mit seinem Schüchternheitskomplex …
Stimmen, Gesichter, Augen.
Sie legte den Bleistift weg. War es eigentlich, Herrgott noch mal, nicht immer das gleiche? Sobald sie einen Entschluß faßte, der ihr selbst gut tat, stellten sich prompt Zweifel ein und tarnten sich unter dem bombastischen Namen ›Pflicht‹.
Sie stand gerade auf, um sich in der Küche eine neue Tasse Kaffee zu holen, als ihr Blick auf das Fernsehgerät fiel. Wie meist lief es ohne Ton. Eine Nachrichtensendung?
Isa traute ihren Augen nicht: Das war doch … ja, Richard war es! – Während dieses ganzen Ladowsky-Theaters hatte sie ihn schon einige Male auf dem Bildschirm erlebt, aber nie in einer solchen Situation! Hatte er sich in einen Straßenprediger verwandelt? Ein Richard Saynfeldt, der in einer Toreinfahrt stand und tatsächlich, groß wie er war, auf einen Haufen Leute herunterpredigte, und dies mit dem üblichen überlegenen Gesichtsausdruck, der dozierenden Hand, der nachdenklich gefurchten Stirn, den beschwörenden Augen …
Rechts in der Bildecke stand ein ziemlich hübsches Mädchen, hielt einen Kassettenrecorder hoch und himmelte ihn an. Richard schien nur zu ihr zu sprechen.
Isa lief zum Fernseher und schaltete den Ton laut. Richards Stimme füllte den Raum:
»… nicht zuletzt ist es das Verdienst der Medien, ja, als Staatsanwalt sage ich es mit einem gewissen Gefühl erleichterter Dankbarkeit … wie gesagt, es ist nicht zuletzt Ihr Verdienst, stets auf diesen eklatanten, manche sagen sogar skandalösen Mangel bei der Abwägung der Rechtsgüter hingewiesen zu haben. Es kann einfach nicht hingenommen werden, daß in weiten Bereichen unserer Rechtsprechung der Schutz der Vermögenswerte über den Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Menschen gestellt wird. Ich verweise nur auf den Fall einer Studentin, die vergewaltigt und beraubt worden war. Für die Vergewaltigung bekam der Täter vier, für den Handtaschenraub fünf Jahre …«
»Lauter! – Können Sie nicht etwas lauter reden, Herr Staatsanwalt?«
Natürlich besaß der Übertragungswagen einen Tongalgen, und der senkte sich nun zu Richard Saynfeldt herab. Der RTL-Reporter ergriff das Mikrofon und hielt es ihm vors Gesicht, der Techniker drängte die Journalisten noch weiter zum Hofdurchgang hin, wo Richard Saynfeldt Stellung bezogen hatte, während sein Kollege mit wildem Armfuchteln versuchte, den Verkehr vor der Croissanterie vorbeizuleiten.
Es war schon ein ziemlich sonderbares Bild.
»Gott sei Dank wurden mit den neuen Bundestagsentscheidungen Fortschritte erzielt. Bis die Ausführungsanordnungen erlassen sind, wird jedoch viel Zeit vergehen. Es gibt künftig im Sexualstrafrecht keine Delikte mehr, es gibt nur noch Straftaten. Alles soll also besser werden. Hoffen wir! Ich persönlich kann nicht verschweigen, daß mir die Rechtslage in vielen Bereichen noch immer unerträglich scheint … Sie fragen nach dem Fall Ladowsky – ich will nicht näher auf ihn eingehen, und was ich sage, ist meine eigene, persönliche Meinung, wohlgemerkt, nicht die meiner Behörde.«
Die Straße war für Richard Saynfeldt zum Gerichtssaal geworden. Da drüben stand das Mädchen, diese, wie hieß sie noch, Anja – er erkannte ihr ihm zugewandtes Gesicht, all das Schimmerhaar! Schrieb eifrig mit, die Kleine, und wie sie ihn jetzt ansah, Bewunderung im Blick, reine, hingerissene Bewunderung …
»Ich finde die Situation unerträglich.« Richard Saynfeldt reckte sich noch höher. »Und bei dieser Einschätzung kann ich leider keine Korrektur und keine Abminderung vornehmen. Das Schlimmste bleibt: Ich vermag keinen Hoffnungsstreifen zu erkennen, daß sich Entscheidendes zum Besseren ändern wird. Denn auf was läuft es im Grundsatz hinaus? Doch darauf, nicht nur den
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