Die Gutachterin
einprägen konnte, »… irgendeinen Mann mit weichgekochtem Keks handelt, der einfach, weil's ihn manchmal überkommt, kleine Mädchen schändet und umbringt – wir müssen bis ins letzte zeigen, was wir sowieso schon wissen: daß der Mann im alltäglichen Leben vollkommen normal und kontrolliert gehandelt hat, nie auffällig wurde, daß er seinen Job ausübte wie jeder andere. Das ist kein Irrer mit Sexualdruck, der seinen verdammten Trieb nur auf diese eine, einzige Weise befriedigen kann und unter diesem Druck zu allem fähig ist.«
Sie nickten, Zustimmung in den Gesichtern, und wollten aufstehen. Nur Berling hob die Hand: »Eines scheint ziemlich klar, Herr Oberstaatsanwalt: Ladowsky schlug immer dann zu, wenn er in einer persönlichen Krise steckte. Er hatte Krach mit seiner Mutter, verlor seinen Job …«
»Na und?« unterbrach Saynfeldt. Das war genau die Richtung, die ihm nicht paßte. »Was heißt das schon? Wenn jeder, der seinen Job verliert, ein junges Mädchen umbringen würde, dann hätten wir hier in der BRD bald Mühe, noch junge Mädchen zu finden.«
Diesmal grinsten sie.
»Das ist doch der Punkt«, schloß Saynfeldt ab. »Wenn wir bei jedem, vom Mörder bis zum Handtaschenräuber, nachforschen würden, ob in seinem Charakter oder in seiner Jugend irgend etwas versteckt liegt, das ihn auf die schiefe Bahn gezwungen hat, dann hätten wir hier nur noch Irrenhäuser stehen. Und manchmal, zum Teufel, manchmal denke ich mir tatsächlich, wir leben in einem einzigen Irrenhaus.«
Auch damit erntete Richard Saynfeldt Zustimmung.
Als sie den Konferenzraum verließen, kam eine der Sekretärinnen auf Berling zu: »Sie haben Besuch.«
»Ich?«
»Eine Dame. Ich habe sie in Ihr Zimmer geführt.«
Erika! dachte er zunächst. Aber Erika hätte sich doch angemeldet? Und im Präsidium aufzutauchen, nein, das kam für Erika nicht in Frage …
Das Zimmer, das sie Berling zugewiesen hatten, war das letzte auf der rechten Seite des Gangs. Es lag direkt neben dem Fernschreibraum.
Die Tür stand offen. Er blieb stehen und verzog überrascht das Gesicht: Mit ihr hatte er nicht gerechnet, nicht mit der halb angesengten Psychiaterin aus Walldorf.
Sie saß auf dem Besucherstuhl und lächelte ihm entgegen. »Tut mir leid, ich habe Sie zweimal telefonisch zu erreichen versucht, aber jedesmal hörte ich: Der Herr Berling ist leider in einer Konferenz. – Falls Sie keine Zeit haben, Herr … wie sagt man da, Kommissar oder Oberkommissar?«
»Sagen Sie Berling.« Er gab ihr die Hand. Er setzte sich in seinen Sessel und fühlte sich noch immer überrumpelt, weniger von ihrem Auftauchen als von dem Anblick: Blaßgrüne Leinenjacke mit schwarzem Rollkragenpulli, dazu das straff zurückgekämmte und zu einem Knoten gebundene Haar, das ihre Backenknochen betonte, und vor allem diese Augen, schräg, beinahe exotisch – da war nichts, das ihn an das rauchverschmierte Gesicht aus der Brandnacht erinnerte. Sie sah schon verdammt gut aus.
»Was machen Arm und Hand?« fragte er. »Der Arm war doch das Schlimmere?«
»Oh, den habe ich fast vergessen. Und an der Hand gibt's nur noch ein Pflaster.« Sie ließ die Finger mit den dunkelrot lackierten Nägeln spielen. »Aber es stört mich beim Schreiben. – Herr Berling, keine Sorge, ich werde Sie nicht lange belästigen. Im Grunde habe ich nur eine einzige Bitte.«
»Und die wäre?«
»Fotos. Könnten Sie mir vielleicht einen Satz der Tatortaufnahmen besorgen?«
Berlings Stuhl rollte zurück, nicht mehr als zehn Zentimeter, eine kleine, unbedeutende, fast unmerkliche Bewegung, und doch drückte sie seine ganze ungläubige Überraschung aus.
»Die Tatortfotos?« wiederholte er.
»Es war doch sicher ein Polizeifotograf zur Stelle, oder?«
»Ja.«
»Und es gibt Aufnahmen.«
»Natürlich. Aber sie sind ziemlich schlimm … Zu was, um Himmels willen, Frau Doktor, wollen Sie die?«
Sie sagte es ihm, und er verstand sofort. Hatte er es nicht oft genug selbst erlebt – Täter, die einen wahren Schutzschild von Erklärungen und Ausreden aufbauten, um dann bei der Konfrontation mit den Taten zusammenzubrechen.
»Gut, die Aufnahmen haben wir, wenn es Ihnen was bringt …«
Die Frau gefiel ihm: ihr Auftreten, ihre klare, direkte Art, ihr Anliegen vorzubringen. Er griff zum Telefon: »Ich werde das Labor anrufen und einen Satz anfordern«, sagte er, während er auf die Verbindung wartete. Er gab eine Anweisung und legte wieder auf. »Sie können sie abholen lassen. Leider ist
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