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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einer, dem gerade ein anderer einen Kopfschuß verpassen wollte?«
    »Gerade das«, sagte sie sanft, »wollte ich ja wissen.«
    Er schwieg. Die Hände blieben auf den Knien. Doch sie verspannten sich, übten Druck aus, so viel Druck, daß die Sehnen weiß hervortraten. Die Augen wiederum schienen völlig ungerührt, sie sahen einfach durch sie hindurch.
    »Gut, ich kann Ihnen sagen, wie ich mich fühle. Ich bin sauer auf diesen beschissenen Mistkerl. Ein Versager, eine ganz miese Flasche ist das gewesen … Und der hatte doch gar nicht weit, noch nicht mal vierzig Meter …«
    »Von wo aus hat er geschossen?«
    »Von so 'ner Wäscheterrasse. Da steht 'n Haus ganz in der Nähe. Er ist hochgeklettert, hat sich da versteckt. Und mein Fenster, das war dort genau vor seiner Nase. – Und schießt daneben!«
    Sie wollte ihn ablenken: »Was taten Sie denn?«
    »Ich? Als er schoß? – Der Pfarrer hat mir so 'nen Kaktus gebracht, grün mit so weißen … na, das sind noch nicht mal Stacheln, die sind noch weich wie Federn. Und darin gibt's sogar 'ne Blattlaus. Kennen Sie Blattläuse?«
    Sie nickte.
    »Ich hätte nie gedacht, daß solche Läuse so nette Viecher sind. Ich wollte dem Kaktus Wasser geben, das tu' ich zweimal am Tag, einmal vormittags und einmal nachmittags, in der Zelle ist so 'ne trockene Hitze, wissen Sie. Ich geb' ihm nicht viel, dem Kaktus, immer nur so 'n paar Tropfen, hat mir auch der Pfarrer gesagt, ich soll aufpassen, daß die Wurzeln nicht verfaulen, viel Wasser könnten die nicht vertragen – na ja, ich geb's ihm, und es ist ihm bekommen, wirklich, er hat sich richtig schön entwickelt, seit ich ihn habe. Der mag mich, der Kaktus.«
    Er lächelte noch immer, und dies war nicht die Form von starrem Lächeln, bei dem die Gesichtsmuskeln einem Befehl folgen und dann innehalten, es war auch kein Grinsen, es war – ja, es war das Lächeln eines nachdenklichen, traurigen Kindes, das sich verzweifelt an eine schöne Erinnerung klammert.
    »Und dann?«
    »Wie bitte?«
    »Dann fiel der Schuß?«
    »Das Fenster zersplitterte. Ich hab' gar nicht richtig gemerkt, was passierte. Ich brachte das einfach nicht in die Reihe … Ich glaube, ich habe noch nicht mal den Krach gehört. Ich spürte einen Schlag, sah ganz plötzlich ins Freie, und dann flogen die Scherben auf den Boden … Ich bin zurückgelaufen und hab' mich abgeduckt, so was tut man ja ganz automatisch, nicht wahr …«
    Sie nickte. Aber sie existierte nicht für ihn.
    »Ich hätte wieder an dieses Fenster gehen sollen. Ich hätte mich ganz vorne hinstellen sollen und schreien: Scheißaffe! Da hast du mich. Los, schieß doch!«
    Die Worte kamen jetzt schnell, doch was sie ausdrückten, eine todesbereite Verzweiflung, stand in einem sonderbaren Gegensatz zu der genauen und ruhigen Art, mit der er sie aussprach.
    »Sie wollten, Ludwig, aber Sie …«
    »Ich wollte? Hat man mich jemals gefragt, was ich will? Was ich will, wen interessiert das schon! Aber gleich nachdem mir klar wurde, was da passierte, ja, da wollte ich etwas. Und das will ich jetzt noch.«
    Er drehte der Kopf zur Seite, so als könne er ihren Anblick nicht mehr ertragen.
    »Ich will, daß es ein Ende hat … Muß doch mal eines haben! – Warum haben Sie Mama nicht verbrennen lassen …? Warum hat der Typ mit dem Gewehr nicht getroffen? Dann wäre das ganze Theater vorbei … Dann würde es den Kreuz … den Kreuz-Mörder nicht mehr geben … Sollen sie mich doch nach Amerika schicken. Wäre noch besser … Da stehen wenigstens ein paar elektrische Stühle rum … Sollen sie doch … Wäre mir nur recht.«
    Sie schwieg.
    Sie wollte warten, bis diese Stimmung ausschwang, wollte zusehen, wieviel echt, wieviel gespielt an dem Ausbruch war und in welcher Rolle er sich gerade befand.
    Doch sie fand keine Antwort. Was sie am meisten erschütterte, war dieser nach innen gekehrte Gesichtsausdruck, die halb geschlossenen Augen, das noch immer bestehende, nun verloren in seinen Mundwinkeln eingenistete Lächeln.
    »Und warum Sie jemand so haßt, Ludwig«, sagte sie dann leise, »warum jemand auf den Gedanken kommt, ein Gewehr zu nehmen, es heimlich in ein fremdes Haus zu tragen und dort zu warten, bis er Sie sehen kann, um dann zu schießen – diese Frage haben Sie sich nicht gestellt?«
    Diesmal dauerte es, bis er zu einer Antwort fand. Er hielt den Kopf wieder gesenkt, sie erkannte, wie sich seine Ohren tiefrot färbten. Endlich sah er sie an, die Lider zitterten, mit seiner Sicherheit war es

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