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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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selbst einen Vater, der sie aus Unverständnis oder Brutalität leiden ließ. Aus diesem oder jenem Grund mag sie sich in einer Einsamkeit gesehen haben, die sie von nun an nur noch mit einem einzigen Menschen teilen wollte: mit dem eigenen Kind, aber einem Kind nach ihrer eigenen, urpersönlichen Vorstellung. Einem Mädchen.«
    »Interessant, was Sie da sagen.«
    »Interessant? Das ist nicht interessant, sondern schrecklich. Und das Schreckliche daran ist, daß auf diese Weise eine reine Subjekt-Objekt-Beziehung entsteht. Es gibt nur eine einzelne handelnde Person in einer solchen Beziehung: die Mutter. Das Kind ist Material, das man bildet wie Ton, es kann weder seine Gedanken äußern noch seinen Wünschen nachgehen, es kann nicht einmal seinen Zorn, seine Wut auf all das, was geschieht, auf seine Weise zum Ausdruck bringen, es wird also völlig daran gehindert, eine eigene Identität aufzubauen. Jungs brauchen dazu meist noch das männliche Leitbild, den Vater. Ist der nicht vorhanden, dann begreift diesen einschneidenden Verlust schon ein Fünfjähriger. Er wird unsicher, die Welt wird ihm fremd.«
    »Also formt er sich eine eigene Welt?«
    »Das wäre der Fluchtweg. Und so ist es auch fast immer. Denn in einer solchen Beziehung wird das Kind immer so behandelt, wie es sich in seine Rolle fügt. Auf Proteste folgt die Strafe, spielt es die gewünschte Rolle, wird es belohnt.«
    »Und Sie meinen, daß daraus dieser Haß auf Frauen …«
    »Dazu weiß ich noch zu wenig von ihm. Vielleicht erfahre ich heute etwas …«
    Sie sah auf ihre Uhr: »Ich finde, wir sollten fahren. Ach ja, da wäre noch etwas, Herr Professor: Ich habe Ihnen ja von meinen Schwierigkeiten erzählt, mit denen ich jedesmal in Preungesheim konfrontiert werde …«
    »Heute können Sie ungestört mit ihm reden, das garantiere ich Ihnen. Die sind ja nur um Ihre Sicherheit besorgt. Ich habe vor allem bei der Anstaltsleitung zu tun, um diese schlimme Schußgeschichte durchzudiskutieren. Ich will wissen, was los war und wie es dazu kommen konnte.«
    »Gut. Aber bitte, ich will nicht wieder einen dieser Gorillas in Uniform sehen.«
    »Keine Sorge. Und vielleicht haben Sie Glück – nach diesem Schock ist er möglicherweise eher ansprechbar.«
    »Das werden wir sehen …« Sie klopfte auf ihre Handtasche: »Hier drin ist eine Überraschung für ihn.«
    »Und die wäre?«
    »Die Tatortfotos.«
    Er runzelte ungläubig die Stirn.
    »Sie meinen, die Leichenaufnahmen?«
    »Ja.«
    »Und die wollen Sie ihm zeigen? Mein Gott, der Kerl hat sein Fett doch schon weg … Und warum heute …? Wie, glauben Sie, wird er darauf reagieren?«
    »Das weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: Er darf nicht mehr ausweichen. Ich sagte ja, er hat sich seine eigene Welt aufgebaut. Das hat er getan, um überhaupt sich selbst und die Welt ertragen zu können. Und das ist genau die Welt, die ich zerschlagen muß, um zum Kern und damit zu irgendeiner vernünftigen und verwertbaren Aussage zu kommen.«
    »Na«, sagte er zweifelnd, »da wünsche ich Ihnen aber viel Glück …«
    Der gleiche grünlackierte Stahltisch, dieselben Stühle, dazu die Aussicht aus dem Fenster auf die Mauer mit ihrer Krone aus grauschimmernden Stacheldrahtrollen – ja, es war wie zuvor, und doch hatte sich vieles, hatte sich beinahe alles geändert. Es war Ludwig Ladowsky selbst, der diesen Wandel sichtbar machte.
    Isabella hatte den Stuhl hinter dem Schreibtisch hervorgeholt und vor dem seinen hingestellt – und da saß er nun, aufrecht und straff, die Hände auf den Knien, im blauen Gefängnishemd, sah sie aus blauen Augen an wie ein artiger, aufmerksamer Schüler. Das Pflaster an seiner Wange war entfernt, man konnte den rosafarbenen, hellglänzenden Strich der Narbe erkennen, die die Wunde hinterlassen hatte. Die Haare waren mit Ausnahme eines störrischen Haarbüschels über seiner rechten Braue sorgsam und glatt an den Kopf gebürstet. Er wirkte so jung, viel jünger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Das Unglaubliche jedoch war die Ruhe, die von ihm ausging.
    »Wie fühlen Sie sich, Ludwig?«
    Er zuckte mit den Schultern und verzog den Mund – tatsächlich, verzog ihn zu einem Lächeln.
    »Was wollen Sie hören? Daß ich super drauf bin?«
    »Die Wahrheit, Ludwig.«
    »Klar doch. Was sonst?« Er lächelte unentwegt weiter. »Ist Ihnen denn, verdammt noch mal, noch nie aufgefallen, daß es nichts Langweiligeres gibt als Ihre sogenannte Wahrheit?«
    »Trotzdem, Ludwig …«
    »Wie fühlt sich denn

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