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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wird das Gegenteil beweisen. Und damit hat er ziemlich viele Chancen. Was können wir vorzeigen? Es kann uns ja passieren, daß wir die Mutter vor dem Prozeß überhaupt nicht mehr zum Reden bringen. Sie wäre im Grunde genommen zwar keine Zeugin, aber unsere wichtigste Informationsquelle. Vielleicht sollten wir jemand nach Mecklenburg schicken, wo Ladowsky aufgewachsen ist. Vielleicht lassen sich dort irgendwelche Leute auftreiben, die die Familie kannten. Ich habe die Akten des ersten Verfahrens durchgeblättert – da offenbart sich die reinste Wüste Gobi. Er ist unehelich zur Welt gekommen, den Vater gibt's nicht mehr. Aber es gibt noch den Stiefvater, der hat die Familie verlassen, als der Kleine gerade fünf Jahre alt war. Er ist Elektroingenieur, soll sich angeblich irgendwo im süddeutschen Raum aufhalten; wir konnten ihn nicht finden … Was ist denn Ihrer Ansicht nach an seiner Jugend bemerkenswert?«
    Sie überlegte. »Die Puppen«, sagte sie plötzlich.
    »Welche Puppen?«
    »Habe ich nicht davon erzählt?«
    »Vielleicht habe ich nicht genau hingehört.«
    Ihr war nun vollkommen der Appetit vergangen. Sie legte die Gabel weg, lehnte sich zurück und stützte beide Hände gegen die Tischkante. Ihre Augen waren halb geschlossen und die Stimme war mit einemmal so leise, daß sie manchmal von dem Lärm der draußen auf der Straße vorüberfahrenden Autos fast überdeckt wurde: »Das war schon sehr merkwürdig in seinem Zimmer. Trotz der ganzen Panik, die ich hatte, nahm ich noch eine Menge wahr: Alles brannte. Und da saßen vier Puppen, aufgereiht wie die Vögel auf der Stange auf einer kleinen Bank … Und an der Wand hing ein kleiner Hockeyschläger, wie er in tausend Jungenzimmern hängen mag – obwohl … ich meine, Ladowsky ist schließlich aus der Zeit heraus, in der man sich noch Kindheitserinnerungen an die Wand hängt. Denn das war der Hockeyschläger eines Kindes. Die Puppen aber … und noch etwas …«
    Reuter hatte sich nach vorne gebeugt, um besser verstehen zu können. »Ja?«
    »Der Schrank«, sagte sie. »Es war ein ganz einfaches, billiges Kastending. Er stand in der rechten Ecke. Die Flammen hatten ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreichen können. Nur das Kleid hatte Feuer gefangen.«
    »Welches Kleid?«
    »Ein Mädchenkleid. Brannte lichterloh. Aber soviel konnte ich doch erkennen, daß es das Kleid eines sechs- oder siebenjährigen Mädchens sein mußte.«
    »Was war mit den Puppen?«
    »Die brannten«, sagte sie mit dieser leisen, geistesabwesenden Stimme. »Die brannten auch. Alles Puppen in Mädchenkleidern, die brannten …«
    Sie hatte die Augen jetzt vollkommen geschlossen. Mit gesenkten Liedern griff sie nach dem Bierglas und schluckte, ohne es abzustellen. Reuter sah sie an und spürte wieder diese sonderbare, liebevoll-väterliche Faszination, die sie von Anfang an auf ihn ausgeübt hatte.
    »Und?« Er sagte das Wort hart und drängend, um sie von der Szene wieder abzubringen. »Was folgern Sie daraus, Frau Gutachterin?«
    Sie öffnete die Augen. Und lächelte. »Man braucht doch nicht allzu viel Fantasie dazu, wie? Alle diese Indizien oder Eindrücke ergeben die beinahe komplette Bausatzanleitung einer krankhaften Mutter-Kind-Beziehung, ein Muster, das in der Psychologie seit langem bekannt ist, weil es relativ häufig auftritt. Das Bild einer pathologischen, einer sehr, sehr kranken Beziehung.«
    »Auch davon steht in den Prozeßakten nichts …«
    »Doch. Dr. Walter Scherer, der Gutachter, hat beim Silke-Meyser-Prozeß schon darauf hingewiesen, aber die Auswirkung als irrelevant bezeichnet. Außerdem: Ladowsky war siebzehn, und damit stand er ja unter Jugendstrafrecht. Dazu war er Ersttäter. Scherer wollte ihm wohl eine ziemlich große Chance geben, und so hat er den großen Wischer benutzt.«
    »Aber dieses Mädchenkleid? Und die Puppen? Was beweisen sie?«
    »Erstens eine ganz schlimme Rollenverteilung. Die Mutter …« Für einen Sekundenbruchteil huschte das mumienhafte Bild des bandagierten Kopfs in ihr Bewußtsein, das sie in der Notstation in sich aufgenommen hatte. »Dadurch wird offensichtlich: Frau Ladowsky wollte keinen Jungen, nein, sie wollte ein Mädchen um sich sehen. Die Gründe können wir zunächst mal vernachlässigen – es mag die Enttäuschung über den Mann gewesen sein, der sie mit dem Kind sitzen ließ, oder die Ablehnung, der Haß gegen seinen Nachfolger. Vielleicht muß man die Gründe aber auch viel früher suchen – vielleicht hatte sie

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