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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vorbei. »Jetzt meinen Sie natürlich, Sie hätten mich, was …? Da wären wir also wieder bei der alten Geschichte …«
    Er schob den Stuhl mit einem Ruck zurück, und es wirkte, als wolle er nicht nur Abstand gewinnen, sondern als könne er sich damit entfernen – von ihr und von der Antwort, von allem. »Warum er das getan hat, ist seine Sache. Muß … muß er wissen … Warum nur hat der Kerl nicht getroffen?«
    Die Augen waren wie blaue Kreise, blau, tief und verzweifelt. »Warum stellen Sie Fragen, wenn Sie mich doch nicht verstehen? Das ist doch alles Quatsch!« Er sprang auf: »Ich will hier weg!«
    »Wohin?«
    »Wohin, wohin? In meine Zelle.«
    »Die mit dem kaputten Fenster, Ludwig?«
    »Sie haben mir eine andere gegeben. Was geht Sie das alles an …? Hauen Sie hier ab. Hätte mich der Schuß erwischt, dann könnten Sie sowieso nicht mit mir reden.«
    »Und?«
    »Was und?«
    »Was würde das ändern?«
    »Alles!« schrie er. »Alles würde es ändern!«
    Sie blieb ganz ruhig sitzen, sah, wie er wieder die Schultern hochzog und nach vorne krümmte, sie sah die verzweifelte Handbewegung, als wolle er etwas abschütteln, sah das, was sie von Anfang an in ihm gesehen hatte: das verzweifelte, von einer ihm fremden Welt in die Enge getriebene und gerade deshalb so gefährliche Kind …
    Während sie unbeweglich sitzenblieb, versuchte sie, soviel Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, wie es ihr möglich war. Und es wirkte. Sein Körper entspannte sich, der Atem wurde wieder normal, er sank auf seinen Stuhl und sah sie wartend an.
    Sie griff nach dem Kuvert mit den Fotos.
    »Daran würde es doch nichts ändern, Ludwig. Daran hätte auch Ihr Tod nichts geändert. Daran wird sich nie etwas ändern. Und ich möchte, daß Sie sich das klarmachen.«
    »Was ist das? Was ist in dem Umschlag?«
    »Das sind die Fotos des Mädchens, das Sie umgebracht haben.«
    Sie hatte eine andere Reaktion erwartet, daß er aufsprang, daß er davonlief oder zu toben begann – doch er streckte nur die Hand aus, und die Ruhe, mit der er das tat, war beinahe unfaßlich.
    »Es war unglaublich«, berichtete Isa, als sie wieder in Reuters Prunkkarosse Platz genommen hatte und während er den Mercedes zurück Richtung City steuerte. »Er sah sich das erste Bild an, das heißt, er warf nur einen Blick darauf, dann legte er es auf den Tisch. Aber ich ließ nicht nach, ich gab ihm gleich das zweite und das dritte. Und er nahm auch die.«
    »Und was ist daran so unglaublich?«
    »Seine Reaktion. Die ruhige Art, mit der er die Fotos betrachtete. Genau so wie … naja, wie irgendein fremder Mensch, der mit einer solchen Geschichte konfrontiert ist, reagiert hätte. Er sagte ›grauenhaft‹, aber das in einem Ton, als habe er damit überhaupt nichts zu tun.«
    Reuter wandte kurz den Kopf und musterte sie von der Seite. Er schwieg.
    »Das reichte mir natürlich nicht«, fuhr sie fort. »Ich sagte: ›Was soll denn das? Was heißt hier grauenhaft? Sie reden daher, als hätten Sie das Mädchen gar nicht gekannt.‹ Und dann kam das Unglaubliche: Er fing wieder an zu weinen, nein, er heulte, er sprang auf, er explodierte förmlich, und dann schrie er unter Tränen: ›Sie war es doch, sie wollte es ja so …!‹«
    »Was?«
    »Ich bin in Situationen wie dieser sehr ruhig. In meinem Beruf ist es selbstverständlich, einen solchen Ausbruch zuzulassen. Das gehört zu den geheiligten Prinzipien … Diesmal mußte ich aber an mich halten, um nicht selbst durchzudrehen. Er sank auf die Knie, er trommelte mit beiden Fäusten auf seinen Schädel ein: ›Ich weiß es doch, ich weiß es doch – sie wollte es! – Es wird mir doch immer gesagt, alles wird mir gesagt – da drin, da wird es gesagt …!‹«
    »Wirklich?«
    »Ja. Ich war heilfroh, daß der Beamte, der draußen vor der Tür stand, das nicht mitbekam und eingriff. Schließlich gewann ich wieder die Kontrolle über die Situation. Ladowsky weinte nur noch und sagte immer dasselbe: ›Warum hat er nicht mit mir Schluß gemacht? Warum hat er danebengeschossen?‹«
    Reuter fuhr weiter, den Blick geradeaus gerichtet. »Und das gehört natürlich alles zu Ihrem berühmten schizoid-hysterischen Persönlichkeitsbild, nicht wahr?«
    »Sein Verhalten zeigt es doch. Man kann in seinem Fall doch nicht mehr von einer normal-psychologischen Bandbreite reden. Der ist doch nicht zurechnungsfähig. Hier hat sich einer eine Kunstwelt konstruiert, hört Stimmen, obwohl eindeutig feststeht, daß keine Schizophrenie

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