Die Gutachterin
trainiert.«
»Merkt man.«
»Ja«, sagte er, »als Sie da umkippten, fiel Ihnen die Marke aus der Tasche. Und da sagte ich mir: Mensch, was bist du für ein Roß, warum hast du nicht zuerst gefragt? Aber Sie kennen das ja wohl noch besser: Fragen empfiehlt sich in gewissen Situationen überhaupt nicht. Da heißt es, schneller zu sein. Ich konnte ja nicht wissen, ob Sie 'ne Pistole haben.« Er grinste: »Die haben Sie ja wohl auch.«
»Pistole? – Ach, ja, ja«, sagte Berling. Mehr brachte er nicht zustande, und einen Augenblick hatte er den Eindruck, als würde das immer so bleiben, als könne er immer nur noch ›ja, ja‹ sagen.
»Ja dann …«
»Sie wollen gehen?«
Er nickte. Der Glatzkopf vor ihm schwamm im Raum wie ein rosafarbener Luftballon.
»Aber darf ich nicht erfahren … Ich meine, Sie könnten mir doch wenigstens erklären, was Sie eigentlich hier wollten?«
»Sie sprechen, Herr Schneider, Sie sprechen … Nur, im Moment habe ich da ein paar Schwierigkeiten … Bleiben – bleiben Sie heute zu Hause?«
»Ja.«
»Ich … dann komme ich wieder.« Berling brachte sogar seine Hand zu einer Art Gruß hoch, und das war eine Spitzenleistung. »Bis später dann, Herr Schneider …«
Damit wurde er den Mann nicht los. Er wollte ihn zum Wagen begleiten, sprach irgendwas von: »In dem Zustand können Sie doch nicht fahren«, Berling jedoch schüttelte stur den Kopf, er konnte fahren, und ob er fahren konnte!
Er fuhr durch die stille Gegend mit den schönen, weißen Häusern hinter ihren schwarzen Jägerzäunen Bad Orb entgegen. Dann aber hielt er an, steckte sich zwei seiner starken Menthollutscher in den Mund, und die zeigten auch Wirkung. Er dachte nach, versuchte die ganze Szene wieder lebendig werden zu lassen: Spul das alles zurück, das geht schon, hab Vertrauen in dein Gedächtnis, so schnell setzt ein Handkantenschlag es nicht außer Gefecht.
Da war doch eine ganze Menge gewesen, das du dir eingeprägt hast, als du in Schneiders Studio reingingst …? Na, los schon! Alles nochmals … Kommando zurück!
Und der Computer in seinem Schädel begann tatsächlich zu ticken. Er warf Ergebnisse aus: Du kamst gleich nach den ersten Schritten an einer Bücherwand vorbei. Die lag rechts. In der Mitte der Wand aber war eine Art Nische, und in dieser Nische wiederum hing das Bild, das alles hast du nur am Rand mitbekommen, der verdammte Schreibtisch war dir ja so wichtig – aber trotzdem, ja, ein großes Foto hing da in dunkelblauem Rahmen hinter Glas. Und es war ziemlich ähnlich dem anderen Foto, das du eine halbe Stunde zuvor in einem Mädchenzimmer in Lengbrunn betrachtet hast: nochmals Evi Fellgrub. Und wieder im blaugrünen Paillettenkostüm. Diesmal aber allein, nur Solistin, das rechte Knie hochgezogen, Schultern und Kopf nach vorne, dem Betrachter zugestreckt, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln, und das alles zusammen in einer jener kessen, triumphalen Posen, die wohl zum Repertoire der ›Crazy Spessart Kids‹ gehörten.
Unter dem Bild? Da gab es noch etwas. Da standen zwei Kerzen … Die steckten in Messingleuchtern und wirkten so feierlich, als müßten sie einen Altar schmücken.
Schon ziemlich merkwürdig das alles …
Der Schreibtisch jedoch, da hat deine Nase dich nicht getrogen – der Schreibtisch brachte noch mehr.
An der rechten Ecke stand der PC, daneben eine ziemlich große, hübsche, holzgeschnitzte Schale. Doch darin lagen nicht nur Kugelschreiber und Bleistifte, darin lag ein für dieses Ambiente doch ziemlich sonderbarer Gegenstand. Fast gleichzeitig jedoch hast du auf der Lederunterlage noch etwas entdeckt: ein Stadtplan, eines jener Faltblätter, die in Vorortgeschäften oder Zeitungskiosken ausliegen und die man manchmal geschenkt bekommt, weil sie von den örtlichen Geschäftsleuten finanziert werden. Die Farbe – gelb. Und darauf in schwungvoller Schrift: ›Kommen Sie doch mal nach Preungesheim!‹
Die Karte, dachte Berling, hat er sich wohl besorgt, um den besten Fluchtweg her auszutüfteln.
Am interessantesten jedoch blieb das metallschimmernde Ding in der Bleistiftschale.
Es war ein Patronenmagazin.
Und soweit das Berling in der halben Sekunde, die ihm blieb, um das alles zu registrieren, einzuschätzen möglich gewesen war, konnte das genau in ein Militärgewehr passen.
Es war beinahe zu fantastisch: das Bild mit den Kerzen, der Stadtplan, das Patronenmagazin – Schneider hatte ihm die unglaublichste Sammlung von Indizien präsentiert, die er je zu
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