Die Gutachterin
er konnte es nicht sagen in dieser weihevollen Atmosphäre.
»Frau Fellgrub, wäre es nicht vielleicht möglich, daß wir gemeinsam zu Ihrem Haus gehen und uns noch einmal in Evis Zimmer umsehen?«
Endlich ließ sie die Hände sinken. Das Schälmesser fiel auf die Tischplatte. »Warum?«
»Nun, vielleicht gibt es noch Hinweise, Briefe oder etwas Ähnliches …«
»Nichts gibt es.«
»Ich spreche mit Frau Fellgrub.«
»Ja, da gibt's Briefe … Und Postkarten, viele Postkarten vor allem. Die liegen alle in einer kleinen Schachtel. Evi hat doch alles aufgehoben, was man ihr schickte. Und ich hab' es durchgesehen. Das, was Sie suchen, werden Sie dort nicht finden.«
»Bitte, Frau Fellgrub.« Berling hatte ihr Gesicht nun genau vor sich, und da er sich vorbeugte, war es ihm sehr nahe. Er sah den ganzen Schmerz darin, einen Schmerz, so tief, daß er ihn nicht auszuloten wagte. Er sah zwei Augen, die sich mit Tränen füllten.
»Ich geh' da nicht hin, ich kann da nicht rein, in Evis Zimmer. Wieso verstehen Sie mich nicht? Wieso lassen Sie mich nicht in Ruhe?« Es kam leise und halb verdeckt von einem trockenen Schluchzen. »Wieso laßt ihr alle mich nicht endlich in Ruhe?«
Berling verstand, aber es war nun mal seine Arbeit, er durfte noch nicht einmal ›Verzeihung‹ sagen. Er blickte Fellgrub an.
Bei ihm erlebte er eine Überraschung: »Na«, sagte er, »wenn's sein muß, dann kommen Sie. Wir fahren hin …«
Es ist eine Arbeit wie jede andere, und du hast deine guten und deine deprimierenden Augenblicke dabei, ziemlich viele deprimierende, wenn man es genau besieht … Doch selten ging Berling etwas so an die Nieren wie die zehn Minuten im ersten Stock des kleinen Hauses an der Dorfstraße von Lengbrunn.
Ein Mädchenzimmer, das typische Mädchenzimmer vielleicht – jedoch ganz besonders hübsch und ganz besonders liebevoll eingerichtet, das könnte man sagen, hätte der Tod es nicht bewohnt …
Die Vorhänge waren zugezogen – Spitzenvorhänge mit einem rosafarbenen Untergrund. Helmut Fellgrub zog sie zurück. Ein kleiner Ikea-Schreibtisch stand vor dem Fenster, in einem leeren Marmeladeglas steckten Bleistifte und Kugelschreiber, die Evi für ihre Schularbeiten gebraucht hatte. Die Schubladen besaßen kein Schloß, aber Berling hatte nicht die geringste Lust, sie zu berühren.
An den Wänden gab es drei dieser einfachen Regale vom Baumarkt. Auf zweien standen Bücher. Eine ganze Reihe davon beschäftigte sich mit Aerobic, für diese ›Crazy Spessart Kids‹ schien es eine halbe Wissenschaft zu sein. Auf dem obersten Regal aber glänzten die Pokale, von denen Irma Fellgrub zuvor gesprochen hatte.
Das Schlimmste waren die Fotos …
Es gab eine große Farbfotografie, sie hing an der gegenüberliegenden Wand, eine sehr gekonnte Profiaufnahme, die Evi im Sprung vor einem Halbrund anderer Tänzer zeigte. Sie trug ein hauteng anliegendes, blaugrünes Paillettenkostüm und hatte sich für diesen Auftritt wohl besonders sorgfältig vorbereitet: Die Haare waren hochgebunden, die Augen mit den künstlichen Wimpern wirkten riesig und wie die einer erwachsenen Frau; der Mund war geschminkt, das Gesicht gepudert, der junge vollkommene Körper in der verführerischen Tanzpose – sie war in diesem Augenblick wohl alles, was sich ein Mann erträumen konnte …
Fellgrub stand vor der Fotografie. Und ganz so, als könne er das alles nicht mehr ertragen, das Bild seiner Nichte, die Erinnerungen und vor allem diese unerklärlich bedrückende Atmosphäre in dem kleinen Raum, griff er in die Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine Zigarette an, um sie sofort, als habe er eine Art Frevel begangen, hastig wieder auszudrücken und in der Packung zu verstauen.
Da waren die anderen Fotos. Sie zeigten die Entwicklungsstadien eines Kindes, zeigten, wie es zu einem fröhlichen, ausgesprochen hübschen und manchmal sehr nachdenklich wirkenden Mädchen heranwuchs …
Was Berling jedoch am stärksten berührte, war der kleine Elefant, der auf dem Korbsessel in der Ecke saß. Der Rüssel war von den vielen Liebkosungen, die ihm wohl zuteil geworden waren, abgeschabt und gegen den Leib gepreßt. Er trug eine kleine rote Schürze und auf dem Kopf ein blauweißes Häubchen. Und er schien zu lächeln, doch das nur mit Mühe; die Augen waren rund und groß und schienen voll unendlicher Trauer auf die Besucher gerichtet.
Wie so off, wie fast jeden Tag während dieser verdammten, beschissenen Arbeit dachte
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