Die Gutachterin
gewesen, die sie ihm geben konnte. Und sie traf. Es war das erstemal, daß sie etwas wie Erstarrung, wie ein persönliches Staunen, ja ein persönliches Wahrnehmen ihrer Person an ihm bemerkte.
»Du willst wissen, wer ich bin?«
Das Du hatte sich beinahe selbstverständlich durchgesetzt, wie es ja auch in ihrer therapeutischen Praxis oft genug geschah. Er hatte sie angesehen, aus diesen dunkelblauen Brunnen von Augen heraus, mit dem flehend-hilflosen, so hübsch geschwungenen Kindermund – mit der ganzen Verzweiflung, die den Abgrund aufzeigte, der in ihm verborgen lag.
»Mein Gott, Ludwig, darüber waren wir uns ja wohl von Anfang an im klaren. Das ist doch zu begreifen, oder?«
»Wer ich bin …? Wenn ich das wüßte … Das will ich selbst schon immer wissen. Seit ich denken kann, will ich das wissen …«
Abends schaltete Isabella die Stehlampe an, legte beruhigende Meditationsmusik auf, hörte den perlenden, gelassenen Sitartönen zu und nahm sich wieder ihre Gefängnisaufzeichnungen vor, um aus den Gesprächsprotokollen eine Anamnese, das Bild der Krankheitsentwicklung zu erhalten, der Ladowsky ausgesetzt war.
Und er war krank! Das stand fest. – Abwegig war es, wie Reuter das getan hatte, von Schauspielerei zu reden – nein, Ludwig Ladowsky war schwer pathologisch. Und da war noch etwas: Er war ein Mensch, ein Westen, dem nicht nur der Reifeprozeß abgeschnitten worden war – nein, nie hatte er eine Chance gehabt, erwachsen zu werden und somit seine eigene Persönlichkeit auszuformen. Dies war das große Verbrechen, das in seiner Jugend an ihm begangen wurde: Seine Mutter hatte ihn daran gehindert, die geschlechtlich festgelegte Rolle des Jungen zu übernehmen, seine Mutter wollte das Mädchen – ein Jüngling, ein Mann zu werden stand unter Verbot, wurde zur Sünde erklärt …
Isabella lehnte sich zurück, schloß die Augen und dachte nach, was der heutige Tag gebracht hatte. Stets waren es ähnliche Reaktionen, oft identische Antworten.
»In dieser Sache dürfen Sie sich um Himmels willen nicht von Gefühlen leiten lassen, Isabella«, hatte Reuter gesagt.
Natürlich durfte sie das nicht. Ihre ›Regeln‹ verlangten ja nichts anderes als objektive, kritische Distanz. Doch hatte der Professor recht, als er ihr vorwarf, daß sie zu wenig an das Opfer dachte? Stimmte es? Ihr Auftrag war die Exploration des Täters. Der grauenhafte Mord, die unendliche, unfaßliche, ja schweinische Brutalität, mit der er ausgeführt worden war – verblaßte er nicht vor dem Bild des unreifen Täters, den man selbst als Kind vergewaltigt und zum Opfer gemacht hatte?
Sei also ehrlich, wenigstens mit dir selbst.
Sie öffnete ihre Arbeitsmappe, wie sie das immer tat, wenn sie mit dem Ladowsky-Protokoll begann.
Aus den vielen Zeitungsfotos hatte sich Isabella die beiden ausgesucht, die sie für ihre Arbeit am geeignetsten fand. Sie lagen nebeneinander: Evi Fellgrub mit dem nachdenklichen Blick, mit dem hübschen – dem schrecklich zertrümmerten Kopf …!
Und er, Ladowsky, die Augen dem Beschauer zugewandt, die verdammten blauen Augen, der Mund, das Konfirmandenlächeln …
Nebeneinander lagen sie vor ihr auf dem Tisch.
Sie schlug den Notizblock auf, überflog die Sätze, die sie aufgeschrieben hatte.
»… als das passiert ist, bei der kleinen Silke wie bei dieser armen Evi, war das immer dasselbe: Mich gab's nicht mehr … Das können Sie glauben oder nicht. Ist mir ganz egal – aber mich gab's nicht mehr. Ich saß wie in 'ner Raumkapsel … Da gab's nur einen außer mir …«
»Noch einen?«
»Den mit der Stimme. Die war in meinem Schädel … Das passiert doch jedem, daß da in seinem Schädel plötzlich Stimmen sind, ist doch auch so im Traum … Ich habe mit Merz gesprochen, war ein Kollege von mir, dem die Frau starb, bei dem lief's auch so. Wenn er sich dreckig fühlte, sprach er mit ihr und hörte ihre Stimme. Oder meine Mutter … ›Ich weiß, was der Herr befiehlt‹, sagt sie dauernd: ›Ich höre durch ihn und sehe durch ihn. Und so sehe ich auch jede Sünde …‹«
Über diesem Teil des Explorationsprotokolls stand als Datum der 14. August. Es war also eine Aufzeichnung ganz zu Beginn ihrer Gespräche.
Sie blätterte weiter in ihren Stenoaufzeichnungen, um entscheidende Stellen für den Aufbau des Gutachtens zu finden.
Hier zum Beispiel …
»… die anderen, die wollen ständig was von dir – nur dich, dich wollen sie nicht … So war's immer. Aber wenn du mal was brauchst, dann ist
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