Die Gutachterin
Zeitung zu sehen, das kannst du mir glauben. Doch willst du wissen, was meine Theorie war? Ich hab' mir gesagt, das Foto hat ihm Tina geschickt, damals, Weihnachten, sie hat ihm genau dasselbe Bild geschickt wie dir. Vielleicht sogar die gleiche Flasche Grappa …«
Im Apparat war nichts zu hören als ein leises Knistern.
»Richard?«
»Ja?« Und dann kam es leise und nachdenklich: »Das hat Tina übrigens tatsächlich …«
»Na also.«
»Und du bist dir sicher, Isa, daß es das Foto nicht mehr gibt – daß du es weggeworfen hast?«
»Absolut! – Hör mal, Richard …«
Aber es gab keinen Richard Saynfeldt mehr in der Leitung. Er hatte aufgelegt.
Isa setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase, verließ das Optikergeschäft, ging zu ihrem Wagen zurück und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie fuhr den Golf rechts in die Hofeinfahrt, parkte ihn auf ihrem Stellplatz, dem Platz Nummer 4 – wie immer, und doch, es hatte sich alles geändert.
Sie sah die Abfallkübel und eine Katze, die sich dort oben sonnte, und die Teppichstange und den blauen Backsteinanstrich der Rückwand des Nachbarhauses, ja, alles wie immer – und trotzdem … Ruhig bleiben, sagte sie sich, hysterisch zu werden ist doch nicht deine Sache … Also blieb sie sitzen und sah sich um: Dort, der Holunderbusch in der Ecke? War da nicht … Nein, da war kein Schatten, da war nichts als zersprungener Beton, aus dem ein wenig Gras wuchs.
Sie schloß den Wagen ab und sah dabei über die Schulter zurück. Dann steckte sie die Hände in ihre Jackentaschen und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, der Haustür entgegen. Sie würde sich von diesen beiden ›Ermittlern‹ nicht verrückt machen lassen … Außerdem: Ein Mann, der auf einen Häftling schoß, mochte seine Gründe haben und hatte sie womöglich, falls er zum menschlichen Umfeld des Opfers gehörte – was aber wollte er um Himmels willen von einer Psychiaterin? Ein Gutachten, das noch keiner kennt … Was ist das schon? Das alles war doch vollkommen abwegig.
Trotzdem sah Isabella sich in ihrer Wohnung um, als hätte sie die Räume noch nie betreten. Der Flur erschien ihr länger als sonst, die Dinge, die sie so gut kannte, wirkten steif, fremd, bedrückend – fast lächerlich anspruchsvoll.
In ihrer ersten Frankfurter Wohnung, nicht viel mehr als eine Studentenbude drüben in Sachsenhausen, war der Lärm vom Hinterhof hochgequollen, und wenn sie die Türe geöffnet hatte, war Moritz, ihr Kater, herangerast und um ihre Beine gestrichen.
Hier – nichts. Niemand.
Kein Laut …
Sie wollte ins Wohnzimmer, entschied sich für die Küche, setzte sich dort an den Tisch und hörte dem Wasser zu, das singend zu kochen begann. Als sie es in die Tasse zu dem Teebeutel goß, verbrannte sie sich die Finger.
Zuviel, dachte sie, dies alles wird irgendwie zuviel. Irgendwie? – Es ist zuviel …
Und morgen um zehn Uhr beginnt der Prozeß!
Das Telefon läutete.
Sie stand auf und ging in ihr Arbeitszimmer. Die herabgelassenen Jalousien hüllten es in Dunkel.
»Reuter!«
»O ja«, sagte sie. »Sie haben mir in meiner Sammlung noch gefehlt.«
»Welcher Sammlung?«
»Zuerst war's ein Polizist, ein Kommissar Berling, dann Saynfeldt.«
»Nun, mich hat der Herr Oberstaatsanwalt ausgespart. Aber diesen Kommissar Berling hatte ich auch am Apparat. Und vermutlich aus demselben Grund. Die Herren machen sich Sorgen um unser Leben und unsere Gesundheit.«
»Und? Nehmen Sie das ernst?«
»Gute Frage. – Wir haben einen Wahnsinnigen zu verteidigen und leben in einer Welt des kollektiven Wahns. Ich befürchte, meine Liebe, daß man in einer solchen Situation gut beraten ist, wenn man selbst das Abwegigste noch ernst nimmt.«
»Haben Sie sich etwa auch eingeschlossen?«
»Ich? – Ich hab' Tommi, meinen kampfgestählten Boxer. Vor dem Hund hat bisher noch jeder Angst gehabt.« Er lachte leise. »Trotz allem, wir zwei werden uns nicht verrückt machen lassen. Im Moment habe ich ganz andere Sorgen. Sie konnten doch noch einmal mit Ladowsky reden. Was ist Ihr Eindruck? Wird er sich an unsere Strategie halten?«
»Ich glaube schon.«
»Sie glauben …? Hat er begriffen, wie entscheidend es ist, daß er sich strikt an meine Anweisungen hält? Bei dem Prozeß in Oldenburg und auch in Augsburg zeigte sich ja, zu was das führt, wenn ein Mandant falsch programmiert wird … Ladowsky muß sichtbar werden lassen, daß ihn die Fragen bewegen, aber um Himmels willen darf er keine Gefühlsschau
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