Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
aktivieren. Und noch immer dauert es mehr als eine Stunde, bis um neun die Putzkolonne kommt … Jemand sollte dem Personal morgen die Vorschriften in Erinnerung rufen, wenn … Aber nein. Mir geht durch den Kopf, dass morgen kein ganz gewöhnlicher Tag sein wird. Das morgendliche Meeting wird auf jeden Fall abgesagt. Und viel gearbeitet wird sicherlich auch nicht. Die meisten Mitarbeiter werden für den Rest der Woche vermutlich massive psychologische Unterstützung brauchen und in den nächsten Monaten in irgendeiner Gruppentherapie Socken stricken, denn der Schock über Lillianas Tod wird traumatisch für sie sein. Weicheier. Als ob auch nur einer von ihnen sonst je einen Gedanken an das Reinigungspersonal verschwendet hätte. Nur die wenigsten von ihnen wissen überhaupt, wie Benjamin und Lilliana aussehen, geschweige denn, wie sie heißen. Und nur eine Handvoll von ihnen hat je bis 9.00 Uhr abends bleiben müssen, obwohl der ganze Verein unablässig stöhnt, dass so viel zu tun sei, und … Ich spüre, wie mein Blutdruck steigt, besser, ich halte meine Gedanken im Zaum. So geht das nicht. Ich muss in der Lage sein, meine Aufgabe zu erledigen, ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben. Die meisten Fehler werden im Affekt begangen. Du weißt, dass du es kannst, sage ich mir immer wieder. Eiskalt bleiben. Immer ruhig Blut.
Ich zwinge meine Atmung in einen gleichmäßigen Rhythmus, atme durch die Nase ein und durch den Mund aus, langsam ein und aus, langsam … Mir geht es bereits besser. Vorsichtig öffne ich die Schranktür und gehe in der stockfinsteren Küche ein wenig auf und ab, strecke die Arme über den Kopf, beuge mich vornüber und berühre mit den Fingerspitzen den Fußboden, richte mich auf, beuge mich mehrmals nach links und nach rechts, nach vorn und zurück. Der Zeltwand-Overall knistert. Ich spüre, wie mein Kreislauf langsam wieder in Schwung kommt, wie die Steifheit in den Gliedern nachlässt. Ich nutze mein Handy als Taschenlampe und finde ein Einwegglas in einem Unterschrank, fülle es am Wasserhahn mehrmals bis zum Rand und trinke es gierig ein ums andere Mal aus. Nachdem ich meinen Durst gelöscht habe, stecke ich das Glas in die Plastiktüte, die ich auf dem Schrankboden bereitgelegt habe. Hier kommen auch die Handschuhe, das Haarnetz, der Plastikoverall und die Schuhhüllen hinein, wenn alles überstanden ist. Und die Mordwaffe, selbstverständlich. Das Ganze will ich heute Nacht auf dem Heimweg loswerden, vielleicht in einem der großen Container bei den Baugerüsten in der Østergade.
Um 20.52 Uhr höre ich, wie jemand den Code eingibt und die Eingangstür sich öffnet. Ich verschwinde in dem Moment wieder im Schrank, als im ganzen Gebäude Licht aufflammt. So, jetzt ist es so weit. Benjamin kommt zuerst in die Küche. Ich ziehe mich ein paar Zentimeter zurück, damit man mich nicht durch die Ritzen sehen kann. Seine lange, hagere Gestalt erscheint in einem schwarzen T-Shirt, abgetragenen Jeans und nagelneuen weißen Sneakers. Das schulterlange dunkle Haar ist zu fettigen Dreadlocks verfilzt, die ihm jedes Mal ins Gesicht fallen, wenn er den Kopf bewegt. Seine Haut ist blass und unrein, die Nase voller großer schwarzer Mitesser. Ein Piercing in der Augenbraue vollendet das unappetitliche Bild. Ich schüttele mich. Gut, dass man seinen Anblick nicht bei Tage ertragen muss! Er öffnet den Kühlschrank und schnappt sich mit einer routinierten Bewegung eine Halbliterflasche Cola. Das macht er jeden Abend. Ich rechne aus, was das die Firma kostet, im Monat, im Jahr – eine Menge Geld. Von meinem Versteck aus sehe ich ihn die Hälfte der Cola trinken. Er rülpst lauthals, lehnt sich, den Hintern halb auf der Tischkante, an den Küchentisch, lässt sich hängen. Was für ein durch und durch abstoßendes Wesen. Der Gedanke ist geradezu erfrischend, dass er höchstwahrscheinlich von Anfang an der Hauptverdächtige der Polizei sein wird.
Als Lilliana zur Tür hereinkommt, rülpst Benjamin noch einmal. Sie runzelt nur die Brauen, sagt aber nichts, während sie sich an ihrem Kollegen vorbeidrückt und direkt zu der Schublade geht, in der die schwarzen Abfallsäcke liegen. Sie reißt zwei Säcke ab und verlässt die Küche wieder. Es ist sein Job, die Papierkörbe zu leeren, und wenn er damit fertig ist, holt er das benutzte Geschirr und die leeren Limonadenflaschen aus den Büros. Später bringt er dann den Müll zum Schuppen, auch das gehört zu seinen Aufgaben. Ich kenne ihre Arbeitsabläufe
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