Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
richtig. Auf der Rückseite verlief ein breiter Weg entlang der angrenzenden Häuserzeile, der auf beiden Seiten von hohen Bretterzäunen mit Pforten begrenzt wurde. Auf jeder einzelnen Pforte standen sorgfältig der Straßenname und die Hausnummer, die meisten waren mit soliden Hängeschlössern gesichert. Als Lotte die Pforte zu Nr. 14 offen stehen sah, war sie so erleichtert, dass sie vollkommen vergaß, sich darüber Gedanken zu machen, warum das Hängeschloss und der Riegel, der eingerastet sein sollte, auf dem Boden lagen. Die Teile waren noch immer zusammengeschlossen, und die acht Schrauben steckten noch in ihren Löchern – als hätte jemand das ganze Schloss mit einem Ruck herausgehebelt.
Vorsichtig betrat Lotte den Gartenweg, wobei sie auf Leben hinter den Fenstern des Hauses achtete. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich im Nachbarhaus eine Gardine bewegte. Das Risiko, dass demnächst die Polizei hier auftauchen und sie festnehmen könnte, ließ sie einen Moment innehalten. Doch dann schüttelte sie dieses Gefühl ab und ging weiter auf das Haus zu. Sie legte die Hände um die Augen und drückte ihr Gesicht ans Fenster des Erdgeschosses. Ein Wohnzimmer. Ziemlich anonym. Schwarze Ledermöbel. Ein überdimensionierter Flachbild-Fernseher, violette Usambaraveilchen auf dem Fensterbrett. Auf dem Glastisch stand ein benutzter Teller, ein fast leeres Glas Milch und ein zusammengeknülltes Stück Küchenrolle. Sie klopfte mit den Knöcheln an die Scheibe und rief nach Mikael, doch es gab keine Reaktion. Einen Moment lang überlegte Lotte, den Gartentisch an die Mauer zu schieben und einen Stuhl daraufzustellen, um hinaufzuklettern und durch ein Fenster in den 1 . Stock sehen zu können, verwarf den Plan jedoch sofort wieder. Sollte der Idiot nebenan wirklich die Polizei gerufen haben, wäre es nicht gerade hilfreich, wenn die Ordnungshüter sie auf solch einer provisorischen Leiter fänden. Erst als sie zurück zur Pforte ging, bemerkte sie den grün gestrichenen, von Efeu überwucherten Schuppen, der sich kaum vom Gebüsch in der hintersten Ecke des Gartens unterschied. Die Tür des Schuppens stand einen Spalt weit offen, und noch bevor sie es bereuen konnte, hatte Lotte zugefasst. Langsam öffnete sich die Tür und gab den ungeschützten Blick ins Innere frei. Was auf dem Boden lag, war klar zu erkennen.
Mit einem Krachen knallte die Schuppentür wieder zu, und Lottes hysterischer Schrei ertönte für einen Moment gemeinsam mit dem Alarm der sich nähernden Sirenen. Vorbei war es mit dem Frieden am Kiplings Vænge. Unablässig kamen und gingen für den Rest des Tages fremde Menschen, die hinter den Absperrungen zu tun hatten, während die Anwohner und eine Gruppe Journalisten die Aktivitäten von der anderen Seite des rot-weißen Absperrbandes verfolgten. Kriminaltechniker, Rechtsmediziner, Polizeifotografen, Sanitäter, Kriminalbeamte in Zivil. Selbst diejenigen, die mit alldem nichts zu tun haben wollten, konnten sich nicht entziehen. Der unwirsche Nachbar, der, wie sich herausstellte, nierenkrank war, wurde im Laufe des Tages mehrfach vernommen; und auch Lotte musste eine ausführliche Erklärung und ihre Fingerabdrücke abgeben, bevor sie auf Anraten des Arztes ein Beruhigungsmittel einnehmen durfte.
Abgesehen von der Mutter des Toten, die zutiefst schockiert aus einem Bibelcamp abgeholt werden musste, war Lotte von den Ereignissen am meisten gezeichnet. Der Anblick von Mikael Kjeldsens Leiche hatte sich auf ihre Netzhaut gebrannt; sie würde diesen Anblick nie wieder vergessen, egal, wie viele Psychologen und Therapeuten ihr auch zu helfen versuchten. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, war sie doch erleichtert, das Gesicht des toten Mikael nicht gesehen zu haben. Sie wagte nicht daran zu denken, wie es gewesen wäre, in seine leeren blauen Augen zu schauen und ein letztes Mal den spärlichen Ansatz seines Schnurrbarts zu sehen. Die Leiche hatte auf dem Bauch gelegen, mit den Beinen an der Tür, umgeben von zerschlagenen Blumentöpfen, halb abgespulten Bindfadenrollen und einer ganzen Menge von Blumenstäben in verschiedenen Längen. Sein linker Arm steckte unter dem Schenkel, der rechte ragte nach vorn, in einem hässlichen Winkel an die Wand des Schuppens gedrückt. Dort, wo sein Kopf hätte sein sollen, lag ein grauer, massiver Kasten, ein ausgemusterter alter Computerbildschirm von der großen und unhandlichen Sorte. Was wog so ein Ding wohl? Acht Kilo? Zehn? In einem Chaos aus Blut,
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