Die guten Schwestern
Tag, und es duftete nach Sommer, wie es nur in Kroatien duften kann. Ein großer, kräftiger Mann mit breitem Lächeln. Meine Mutter sah aus, als sähe sie ein Gespenst. Ich war nicht mehr als sieben Jahre alt. Aber ich weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre. Er nahm mich in die Arme und drückte mich fest an sich. Mein kleines, schönes Töchterchen, sagte er auf deutsch. Das hat mir meine Mutter später erzählt. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel. Keine Sekunde habe ich gezweifelt, daß das mein Vater war. Vaterlos zu sein war in der Nachkriegszeit ein Schicksal, das ich mit Millionen anderer Kinder teilte. Aber ich glaube, daß alle Kinder davon träumten, daß ihr Vater eines Tages auftauchen und sie in seine Arme nehmen würde. Meine Mutter fing an zu weinen, dann kam sie zu uns. Dann hat er mich behutsam auf die Erde gesetzt und uns beide umarmt, und das ist der erste wirklich glückliche Augenblick meiner Kindheit, an den ich mich erinnere. Mein Vater war nach Hause gekommen.«
Sie hielt inne und trank ihr Glas leer, und ich wrang für sie noch ein paar Tropfen aus der kleinen Flasche.
»Und dann?« sagte ich.
»Was, dann?« sagte sie.
»Na, was passierte dann?«
»Dann kam der Alltag, es ist nicht so einfach, darüber zu berichten, weil es eben nichts Besonderes zu erzählen gibt.«
Ich starrte sie an. Hier tauchte eine Halbschwester aus der Vergangenheit auf, und irgendwie mußten wir ja auch gemeinsame Gene haben, aber trotzdem tat ich mich schwer damit, die Geschichte zu akzeptieren. Vielleicht hatte ich Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Vielleicht wollte sie mir nicht richtig in den Kopf. Ich sagte:
»Erzähl mir ein bißchen von eurem Alltag. Wovon lebte er zum Beispiel?«
»Vom Brotmachen natürlich. Er war ja Bäcker, und zwar bis er in Rente ging. Er war ein guter Bäcker.«
»Warum durfte er bleiben? Er war doch ein alter Nazi. Und SS-Scherge. In Nürnberg wurden die als Kriegsverbrecher verurteilt!«
»Es gibt mehrere Gründe«, sagte sie. »Nicht mal unter Tito haben alle Leute in Kroatien die Deutschen und die Ustascha als faschistisch angesehen. Bei so manchen galten sie auch als Widerstandskämpfer, die sich für ein freies Kroatien einsetzten. Für die kroatische Kultur und Nation. Es war nicht so einfach, wie es die Propaganda darstellte. Selbstverständlich wurden einige bestraft. Die Macht haben andere übernommen, aber irgendwie waren sie in erster Linie Kroaten und dann erst Sozialisten. Denk an unsern Präsidenten Franco Tudjman. Ist er nicht mal Sozialist gewesen? Und gründete er nicht fünfzig Jahre später das neue selbständige Kroatien? Wer weiß, was er in all den Jahren, als er Jugoslawien und dem Sozialismus diente, im tiefsten Innern gedacht hat. Außerdem trug Vater einen andern Namen. Später wurde er kroatischer oder vielmehr jugoslawischer Staatsbürger. Lernte unsere Sprache. War wie alle anderen auch.«
»Wie hat er das geschafft?«
Sie schaute mich mit ihren merkwürdigen leeren Eisaugen eine Weile an, ehe sie entgegnete:
»Er hat es nie erzählt. Das haben die alten Kameraden geregelt, sagte er nur. Sie haben sich nach dem Krieg gegenseitig geholfen. Der eine Verlierer half dem andern, ein neues Leben anzufangen.«
Die alten SS-Seilschaften, über die soviel geschrieben worden war, dachte ich. Diese mystische Bruderschaft alter Nazis und Frontkämpfer, die diskret für Visum, Arbeit und Unterkunft sorgte. Ich hatte nie so richtig daran geglaubt. Es klang etwas übertrieben, daß die Verlierer imstande waren, im zerschlagenen Nachkriegseuropa ihre Fäden zu ziehen. Und mit dem Wohlstandsboom der sechziger Jahre gab es niemanden mehr, der noch an den alten Krieg dachte, mit Ausnahme vielleicht ehemaliger Widerstandskämpfer oder nostalgischer SS-Veteranen.
Aber man weiß ja nie.
Womöglich kam mein biologischer Vater auf diese Weise zu seiner ersten Bäckerei in Dänemark. Manchmal habe ich daran denken müssen, wie er und meine Mutter wohl die Mittel zusammenbekommen haben, um sich niederzulassen. Meine Mutter sagte, durch Kredite. Deshalb seien sie so schnell pleite gegangen. Sie hätten keine Reserven gehabt. Im Grunde hätte es ja auch Kriegsgewinnlergeld sein können. Es war eine undurchsichtige Lage so kurz nach dem Krieg. Gelinde gesagt. Und es war ziemlich viel Kleingeld im Umlauf. Die fünf Jahre waren nicht die glorreichsten in der Geschichte Dänemarks. Und die Zeit danach bestimmt auch nicht.
»Habe ich noch mehr Geschwister?«
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