Die guten Schwestern
entlassen, nachdem der erste Zorn und Rachedurst sich gelegt hatte. Aber stigmatisiert waren sie dennoch. Warum wurden sie verurteilt? Sehr viele, wie auch Karl Viggo und dein Vater, weil sie sich anwerben ließen, aber das taten sie ja mit dem Segen der Regierung. Darin liegt die Ungerechtigkeit.«
»Das verstehe ich gut«, sagte ich.
»Heute ist es eine ganz gewöhnliche Kaserne. Und keiner will sich an diese Ungerechtigkeit erinnern. Man gedenkt der dänischen Widerstandsleute, die im letzten Kriegsjahr unter hervorragenden Bedingungen im Lager saßen. Aber daß Frøslev zu Faarhus wurde und das größte Konzentrationslager für politische Gefangene des sogenannten freien Dänemark war, das soll keiner wissen. Es paßt nicht zum Selbstverständnis dieser Nation.«
Ich verstand, was E. sagte, und ich verstand die Beweggründe seines Onkels, aber ich hatte auch die furchtbaren Bilder der Gaskammern und der ausgehungerten Gestalten aus den KZs vor Augen. All die schrecklichen Massaker an Millionen von Menschen. Als könnte E. meine Gedanken lesen, sagte er:
»Der Nationalsozialismus ist tot, Irma. Aber das ist keine Rechtfertigung dafür, daß die Gesellschaft lügt, wenn es um ihre Vergangenheit geht, und sich eine Wahrheit aussucht, die zu den Legenden paßt, an die das Volk nach dem Willen der Machthaber glauben soll.«
Ich berührte den Stein. Er war kalt und rauh. Aber es war auch etwas Magisches an ihm. Als besäße er eine Kraft, eine Verbindung zur Vergangenheit. Als bekäme ich durch die Berührung Kontakt zu meinem Vater, eine schwache, aber deutliche Verbindung, die meiner Seele Frieden spendete, weil ich mit meinem Verlust und meinem Schmerz nicht mehr allein war.
E.s Onkel hatte die Augen halb geschlossen und den Kopf gebeugt, als betete er. Ich hatte ein Gefühl von Religiosität an diesem Ort. E. dagegen bewahrte wie immer seinen kühlen, analytischen Überblick, der keine Gefühle erlaubte. Er fand wie gewöhnlich die richtigen Worte.
»Unsere Väter haben ihre Gesellschaft korrekt analysiert, aber ihre Schlußfolgerung war falsch. Ihre Waffen zeigten in die verkehrte Richtung. Aber der heuchlerischen Gesellschaft, die sie hervorbrachte, soll nicht erlaubt sein, die Erinnerung an sie zu beschmutzen und sie und uns zu strafen, nur weil sie glaubt, auf diese Weise ihre eigene Schande vergessen machen zu können. Das ist die Lehre aus ihrer Geschichte. Du brauchst dich nicht zu schämen, Irma. Die anderen sollten sich schämen!«
Ich sah ihn an. Vielleicht war dies der Augenblick, in dem mein Leben einen Sinn bekam. Jedenfalls fing ich an zu weinen, als er mich in die Arme schloß und mich an sich drückte. Dort, auf der stillen, kahlen Waldlichtung, wußte ich, daß ich ihn nie verraten würde.
VIERTER TEIL
Für Dänemarks Ehre
»Die Not macht einen
mit seltsamen Schlafgenossen bekannt.«
William Shakespeare, Der Sturm
21
P er Toftlund war aufgewacht, bevor der Wecker klingelte. Er lag im morgendlichen Dunkel und lauschte Lises langsamen, mühseligen Atemzügen. Unter der Decke wölbte sich ihr mächtiger Bauch wie ein Buckel an ihrem Körper. Ihr Gesicht war leicht fleckig und schweißbedeckt, so daß ihr das dicke Haar an den Schläfen klebte. Er wußte nicht, warum er sich so müde und ein wenig abgeschlagen fühlte, als bahnte sich eine Frühjahrserkältung an. Vielleicht wußte er aber doch, warum. Auf der Arbeit erlebte er manchmal, wie sich die Zeit plötzlich verlor und ein Satz, der an ihn gerichtet war, unbemerkt an ihm vorübergegangen war. Kleine Erinnerungslücken, die ihn beunruhigten. Vielleicht waren es die Folgen seines Versagens am Flackfort. Oder befürchtete er, den Job, der ihm zurückgegeben worden war, nicht mehr erfüllen zu können? Manchmal ertappte er sich im Laufe seines Arbeitstages dabei, vor seiner zukünftigen Vaterrolle Angst zu haben. Er bekam ein schlechtes Gewissen, daß er sich nicht einfach bedingungslos darauf freute. Dabei müßte es doch so sein. Vielleicht weil er nicht wußte, worauf er sich da einließ. Die Tatsache, daß er die Vierzig unübersehbar überschritten hatte, war nicht vom Tisch zu wischen. Schon dieses Faktum müßte doch anzeigen, daß es biologisch richtig war, sich zu binden. Vielleicht machte ihn das Wörtchen »binden« nervös. Er hatte nicht den leisesten Zweifel daran, daß er Lise liebte, aber die Ehe schüchterte ihn auch ein, und nach Hause zu kommen war nicht leicht gewesen. Das Blut, das über den Fußboden
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