Die guten Schwestern
zu, der noch einen Schluck Wasser nahm und Charlotte ansah, ehe er fortfuhr.
»Ich glaube, wir müssen die Erklärung für ihren Landesverrat finden…«
»Den wir nicht beweisen können«, unterbrach Vuldom ihn.
»Für ihren Landesverrat in ihrer revolutionären Jugendzeit. Sie ist heute nicht mehr aktiv. Aber wir haben sie auch nicht lange beobachtet. Sie wurde nie für irgend etwas verurteilt.«
»Sie war wie die anderen auch«, sagte Vuldom. »Die Dänen haben keine Revolution gemacht. Es wurde kein Krieg angefangen. Die Theorien blieben Theorien. Ihre kalten Worte über den Terror waren und blieben kalt. Die apokalyptischen Gefühle blieben Gefühle. Sie hatten das Glück, daß ihre revolutionären Worte in der liberalen Gesellschaft, die sie so unversöhnlich haßten, keine Konsequenzen nach sich zogen.«
Toftlund wußte nicht, was apokalyptisch bedeutete, und wartete eigentlich auf eine Erklärung, aber Vuldom drückte nur ihre Zigarette aus und sah ihn und dann Charlotte Bastrup an, die einen Notizblock und einen Stoß Unterlagen vor sich liegen hatte. Toftlund lief es kalt über den Rücken, als wenn jemand ein Fenster geöffnet hätte und ein kalter Wind durch das moderne, warme Büro zöge. Vuldoms Fähigkeit, Situationen und Menschen zu durchschauen, war altbekannt, aber konnte sie auch Gedanken lesen?
»Weiß Irma, daß du in ihrem Bericht mitliest?« fragte sie bloß.
»Nein.«
»Willst du sie damit konfrontieren?«
»Ja. Da stehen Sachen drin, die ich gebrauchen kann. Auf die sie antworten muß.«
»Wie bist du an den Bericht rangekommen?«
»Das war Charlotte.«
Vuldom schaute Bastrup fragend an, die den Kopf hob und ihr direkt in die Augen schaute.
»Sie benutzt ein gewöhnliches Word-Programm. Sie hat einen Kode verwendet. Die meisten Menschen sind ziemlich phantasielos. Ich habe mit ihrem eigenen Namen angefangen, ihn dann rückwärts buchstabiert, dann den Namen ihrer Brüder, des Vaters und so weiter. Es war schließlich Teddy rückwärts gelesen. Ich hab mir die Datei von ihrem Computer geladen, wenn sie beim Verhör war oder ihren Hofgang hatte.«
»Nein, das war nicht sehr phantasievoll, Teddy von hinten gelesen«, sagte Vuldom. »Aber es könnte ja auch eine andere Möglichkeit geben. Daß sie nämlich will, daß wir mitlesen. Daß sie damit gerechnet hat, daß wir ihren simplen Kode knacken. Habt ihr daran gedacht? Habt ihr daran gedacht, daß Klein Irma vielleicht will, daß ihr ihren Erinnerungsroman lest?«
Toftlund und Bastrup nickten und warteten auf die nächsten Worte ihrer Chefin.
»Dann schickt sie dir also eine Mitteilung, Toftlund, laut und deutlich.« Vuldom nahm den Ausdruck von Irmas Tagebuch in die Hand und las vor: »›Ich sah ihn an. Vielleicht war dies der Augenblick, in dem mein Leben einen Sinn bekam. Jedenfalls fing ich an zu weinen, als er mich in die Arme schloß und mich an sich drückte. Dort, auf der stillen, kahlen Waldlichtung, wußte ich, daß ich ihn nie verraten würde.‹«
Vuldom blickte auf, legte die Seite hin und wiederholte:
»›Wußte ich, daß ich ihn nie verraten würde.‹ Nicht wahr? Ein Wink mit dem Zaunpfahl.«
»Und ein Geständnis«, sagte Toftlund.
»Auch das, aber keines, das vor Gericht Bestand hat. Wer also ist E.?«
»Der Spion. Der an die Serben liefert. Oder an die Russen, die an die Serben weiterliefern. E. könnte die Einflugrichtung des Stealth-Bombers verraten haben, so daß er abgeschossen werden konnte. Das wäre ja sonst nicht möglich gewesen. Er war doch unsichtbar, verdammt noch mal. Irma hatte keinen Zugang zu diesen Informationen, aber E.«
Toftlund trippelte auf der Stelle. Vuldom beobachtete ihn, ehe sie fortfuhr:
»Wenn er beim Militärapparat der NATO oder im Auswärtigen Dienst oder bei der EU angestellt war, steht er, wenn wir Irma glauben können, jetzt kurz vor seiner Pension oder ist sogar schon pensioniert. Er ist ein Überbleibsel des kalten Kriegs. Er fühlte sich sicher, weil die Stasi das Kodeband der Auslandsagenten zerstören konnte. Das meiste davon jedenfalls. Hat er selbst keinen Zugang zu Geheiminformationen, dann hat er vielleicht jemanden rekrutiert, der Zugang dazu hat. Eines Tages klopft es plötzlich an seiner Tür, und davor steht ein Russe, der ihn unter seinem Stasi-Decknamen kennt und verlangt, daß er wieder aktiv wird. Er soll die NATO-Einflugkoordinaten über Jugoslawien und dem Kosovo beschaffen, sonst…«
Vuldom ließ den Satz in der Luft hängen.
Bastrup räusperte
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