Die guten Schwestern
entlangkurvten, um ihre Last auf serbische Scheinstellungen oder Brücken fallen zu lassen, die mit fliehenden Zivilisten überfüllt waren. Stimmt. Er jagte ein Gespenst, aber er hatte eben einen Befehl. Er konnte nicht einfach einpacken und nach Hause fahren. Denn über das kratzende Satellitentelefon der Flüchtlingshilfe hatte Toftlund erfahren, daß es Vuldom gegen alle Erwartungen gelungen war, Irmas Untersuchungshaft um weitere acht Tage zu verlängern, wobei der Richter jedoch klargestellt hatte, daß es das allerletzte Mal war, es sei denn die Beweislage ändere sich grundlegend zugunsten der Staatsanwaltschaft.
Das war gestern gewesen. Danach hatten sie in der Restaurantbar des Hotels gesessen und billiges Bier vom Faß getrunken. Toftlund hatte eins getrunken, Teddy saß vor seinem vierten und wurde langsam blau und streitsüchtig. Toftlund hatte ihn da sitzen lassen und noch einen Spaziergang in die Stadt gemacht, zum Hafen und zur schmutziggrauen Adria, wo ein dicker Rand schleimigen Drecks mit alten Plastikflaschen, anderem unvergänglichen Abfall und menschlichen Fäkalien mit den Wellen, die von der italienischen Zivilisation behäbig herüberrollten, an die großen Feldsteine schwappte. Von dort drüben kam auch ein sanfter Strom der großen Roll-on-roll-off- Fähren , die Menschen und Material ausspien. Militärisches Gerät und große Mengen Hilfsmaterial von Decken über Binden bis hin zu Lebensmitteln häuften sich in den verfallenen, verdreckten Speichern von Durrës an. Die Serben hatten den Flüchtlingen alles genommen. Von ihren Unterkünften bis hin zum Recht der Frauen, sich sauberzuhalten.
Mit immer müder werdenden Augen kämpfte Torsten Poulsen darum, das Hilfsmaterial aus den Speichern zu den vielen Flüchtlingen zu befördern, die in Behelfszeltstädten oder stillgelegten Fabriken oder verlassenen Schulen lebten. Im Grunde standen ihm genug Fahrer und Lastwagen zur Verfügung, aber das multikulturelle, ineffiziente UN-System zum Funktionieren zu bringen war die Hölle. Alle mußten ihren Senf dazugeben. Die bürokratischen Wege waren zäh wie der albanische Morast. Die Straßen waren mit militärischem Verkehr und LKW-Konvois von Privatorganisationen verstopft, die ebenfalls helfen wollten, oft genug aber die verkehrten Sachen an die verkehrten Orte brachten. Und dann schwärmten auch noch Pressevertreter wie die Bienen durch die Gegend, standen im Weg, drängelten sich überall vor, engagierten Dolmetscher und teure Spekulanten, die die Preise für alles in die Höhe trieben, vom Benzin bis zu den Englischkenntnissen. Aber sie waren das notwendige Übel. Wenn sie die leeren, flehenden Augen des hungrigen, durchgefrorenen Kindes nicht an prominenter Stelle in den Nachrichtensendungen plazierten, würden die Mittel der Flüchtlingsorganisationen schnell austrocknen. Torsten wußte, daß die Presseleute sich nur kurze Zeit in Albanien aufhalten würden, bis sie und ihre Redaktionen die Geschichten von Tod, Vergewaltigung, Mord, Terror, ethnischer Säuberung und Flüchtlingsleid überhätten und sich auf ein anderes Thema stürzen würden, das ihre Aufmerksamkeit dann für ein Weilchen auf sich ziehen konnte.
»Wenn die Journalisten und die öffentliche Aufmerksamkeit längst wieder weg sind, bin ich immer noch da«, hatte er gesagt, als er mit Toftlund am Tag nach dessen Ankunft in die Hauptstadt Tirana gefahren war, um C. zu treffen. Während Torsten mit engelsgleicher Geduld gemeinsam mit den UN-Bürokraten kämpfte, aber auch gegen sie, um Frachtgüter für seine Fahrer zu bekommen, traf sich Toftlund kurz mit Major Carsten S0rensen. Sie saßen in einem Straßencafé in Tiranas Hauptgeschäftsstraße. Es herrschte strahlender Sonnenschein mit Temperaturen an die zwanzig Grad. Tirana war eine bizarre Stadt mit großen sozialistischen Avenuen, verfallenen Häusern, halbfertigen Glas- und Betontempeln, schreiender Werbung, Marktständen überall und weidenden Kühen an einem Kanal, der als offene Kloake die Stadt durchquerte. Sie saßen mit Blick auf die Oper und das große Hotel International. Tirana erinnerte Toftlund an Istanbul, nur ärmer mit seinen bettelnden oder Zigaretten verkaufenden Straßenkindern, die ihre Waren in zerfledderten, alten Pappkartons feilboten. Überall wurde Werbung für Marlboro gemacht und für etwas, das Tele-Bingo hieß, bei dem der Glückliche drei Millionen albanische Lek gewinnen konnte. Auch hier waren die jungen Leute ausgesprochen gut gekleidet,
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