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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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fragte ich.
    »Du hattest«, sagte sie, und ihre Augen wirkten auf einmal tiefer. »Meine Eltern bekamen Zwillinge. Zwei Jungen. Sie wurden 1956 geboren. Sie starben 1995. Im Abstand von zwei Tagen in der Krajina, als das kroatische Heer die Serben vertrieb.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich ehrlich.
    »Es ist der Balkan, der das Leiden schafft«, sagte sie bloß. Wir schwiegen. Das Hotel war still. Von der Straße hörten wir das Geräusch eines einsamen Autos und einen klagenden Ruf, der ebenso plötzlich verhallte, wie er entstand. Als entlüde sich der Schmerz eines Verzweifelten, indem er ihn herausschrie.
    »Hast du selber Kinder?« fragte ich.
    »Zwei Mädchen, glücklicherweise. Ihnen blieb der Krieg erspart. Ich habe zwei Enkelkinder. Beide gesund und munter. Im Vergleich zu vielen anderen bin ich glimpflich davongekommen. Der eine Schwiegersohn muß sein Leben als Einbeiniger verbringen, aber damit kann man leben. Die serbische Mine hat seine Männlichkeit verschont. Meine eine Tochter ist wieder schwanger. Die letzten zehn Jahre Krieg in meinem Land habe ich gut überstanden. Ein Krieg, der weitergeht. Jetzt im Kosovo. Jetzt ist dein Land, das alte Vaterland meines Vaters, im Krieg mit Jugoslawien.«
    »Mit Serbien«, sagte ich. »Ich dachte, du seist Kroatin.«
    Es zuckte in ihrem Gesicht, als wenn sie sich verraten hätte.
    »Ich bin in Jugoslawien aufgewachsen«, sagte sie dann. »Ich freue mich über unsere Selbständigkeit, aber ich habe viele Jahre in Belgrad gearbeitet und habe viele serbische Freunde und Kollegen. Ich kann mich nur schwer daran gewöhnen, daß wir jetzt Feinde sind.«
    »Was hast du gemacht?«
    »Papiere in einem Ministerium von einem Stapel auf den anderen gelegt«, sagte sie. »Jetzt lege ich in einem anderen Ministerium Papiere von einem Stapel auf den anderen.«
    »Warum muß ich das hier alles erfahren?« sagte ich und war selbst über die Heftigkeit überrascht, mit der ich die Frage stellte.
    »Es war der Wunsch deines Vaters. Der Großteil dieser Geschichte war auch für mich neu. Die Liebe des Jahres 1943 hatte schon immer zum guten Mythos meiner Familie gehört, aber den Rest der Geschichte über die andere Familie in Dänemark erfuhr ich erst kürzlich. Es war der letzte Wunsch unseres Vaters. Ich finde, man sollte den letzten Wunsch eines Sterbenden erfüllen.«
    »Man braucht nicht alles zu wissen, verdammt«, sagte ich. »Warum müssen die Leute immer ihre verfluchten Sünden bekennen? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«
    »Ich kann gut verstehen, daß es weh tut.«
    »Ich glaube, du verstehst überhaupt nichts«, sagte ich. Ich selber verstand es jedenfalls ganz und gar nicht. Ich grübelte darüber nach, was ich Fritz und Irma erzählen sollte und meiner alten Mutter, die sicher zu verkalkt war, um zu begreifen, daß ihr weggelaufener Mann nicht 1952 in einer Hamburger Kneipe das Zeitliche gesegnet, sondern ein produktives und offenbar glückliches bürgerliches Leben als Bigamist in Kroatien verbracht hatte. Daß die ganze Geschichte in ihrer himmelschreienden Banalität von Liebe handelte. Daß mein Vater ein Mädchen in einem Dorf in Jugoslawien geliebt hatte. Und daß seine Liebe so stark war, daß sie alles andere überwunden hat. Daß er ein Menschenalter lang glücklich mit derselben Frau zugebracht hatte. Irgendwie strebten alle modernen Menschen nach dem gleichen banalen bürgerlichen Glück. Auf jeden Fall hofften sie auf den einen Richtigen. Doch fanden ihn nie. Nach drei Ehen sprach ich aus einer gewissen Erfahrung. Im Dunkel der Nacht, wenn wir allein sind, träumen wir alle von der bedingungslosen Liebe. Wir rechnen nicht damit, sie zu erlangen, aber wir träumen davon. Immer wenn wir einem anderen Menschen in die Augen blicken, glauben wir, daß er es ist, den wir suchen. Bei Tag erkennen wir das Fruchtlose des Traums, des Nachts träumen wir ihn wieder.
    Ich war nun wirklich müde, und ich hatte Zahnschmerzen und Kopfschmerzen. Ich hatte genug. Ich wollte schlafen. Ich wollte am nächsten Tag nach Budapest fahren und über die Sache nachdenken und für mich entscheiden, was sie bedeutete. Das war meine intellektuelle Stärke, dachte ich. Ich mußte doch darüber nachdenken können. Von Emotionen bis zur Weltpolitik konnte ich alles analysieren, aber in dieser Nacht im Hotelzimmer drehte sich mir alles im Kopf herum.
    »Ich möchte gern, daß du gehst«, sagte ich.
    Sie schien in gewisser Weise verletzt zu sein, aber ihre Augen hatten noch

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