Die guten Schwestern
anziehen wollte. Vor allem die Socken. Man macht sich keine Vorstellung, wie weit es bis zu den Füßen sein kann, selbst im Sitzen. Wundersamerweise gelang es mir, in die üblichen Klamotten zu schlüpfen: Hose, Hemd, Schlips, graue Jacke. Mr. good old-fashioned Tweed. Akademischer Rat von und zu russischer Geschichte bereit für die Aufgaben des Tages! Er stand ein Weilchen reglos auf der Stelle, unser Rat. Die Schmerzen fuhrwerkten wie Schürhaken in seinem Rücken herum, aber er konnte nicht umhin, über sich und die ganze Situation ein bißchen zu lachen. Jetzt wollte er getröstet werden.
Ich bückte mich ganz behutsam, um ans Telefon zu kommen, und wählte unsere Nummer zu Hause. Ich sah unser Telefon vor mir, in unserer wunderschönen, gutgeschnittenen Fünf-Zimmer-Wohnung daheim in 0sterbro im herrlichen königlichen Kopenhagen. Dort mußte gerade das Morgenchaos herrschen, das ich normalerweise verabscheute, in meiner jetzigen Lage allerdings mit einer Intensität vermißte, die mich trotz der Schmerzen überraschte. Das große Morgenritual, wenn Familien mit Kindern Zähne putzen, sich anziehen, frühstücken und in einigermaßen erträglicher Ruhe und Ordnung das Haus verlassen müssen. Den Morgen überließ ich Janne. Ich saß im Bademantel in der Küche, mit Zeitung, Kaffee und meiner ersten Zigarette, und versuchte das unerklärliche Chaos zu ignorieren, das kleinere Kinder des Morgens verursachen können. Wie kann man sich streiten und gleichzeitig Cornflakes essen? Janne war genau so ein Morgenmuffel wie ich – sie nannte es morgenstill –, aber sie war auch Mutter, also flitzte sie durch die Gegend, füllte die Teller, schmierte Stullen und hetzte und schimpfte, und fast jeden Morgen dachte ich, wieso stehen die nicht ein bißchen früher auf, verflucht noch mal? Das habe ich ihr einmal ins Gesicht gesagt, ein paar Monate nachdem wir zusammengezogen waren. Darauf hatte Janne tagelang nicht mit mir gesprochen. »Warum hilfst du mir nicht einfach, du Heini?« hatte sie gezischt. »Das gehört nicht zu unserer Abmachung«, hatte ich geantwortet. »Das hab ich nämlich schon hinter mir, ich hab ja selber welche.« Das war ja auch nicht gerade nett gesagt.
Jeden Morgen gelang die Operation wie durch ein Wunder, und die Sprößlinge wurden mit all den andern armen Kerlchen zur Schule gebracht. Nachdem sie ihren Nachwuchs durch die Gefahren des morgendlichen Verkehrs eskortiert hatte, kam Janne manchmal noch einmal nach Hause zurück. Dann setzte sie sich an den Tisch, bekam ihren Kaffee und einen Teil der Zeitung, und wir frühstückten in aller Ruhe zusammen. Als Akademischer Rat verdiente ich mehr als Janne, die nur wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Dafür hatte sie mehr Verpflichtungen an der Uni. Die Seminare, die ich mittlerweile gab, waren arbeitsmäßig nicht furchtbar belastend. Wie oft mußte sie als erste aus der Tür und an der täglichen Völkerwanderung teilnehmen, die das Los des modernen Lohnsklaven ist, während ich mir noch einen Kaffee genehmigte, bevor ich mich an meinen Schreibtisch zurückzog, um zu forschen oder zu schreiben. Die Wirklichkeit der letzten Jahre sah meist so aus, daß ich aus dem Fenster glotzte und eine große Pappel anstarrte. Es ist unglaublich, wie lange einen ein kleines Eichhörnchen, das durch die kahlen Zweige wieselt, ablenken kann und man auf die Weise die Arbeit an einem Projekt, an das man im Grunde nicht glaubt, aufschieben kann. Aber es mußte nun einmal geschrieben werden, damit meine nichtswürdigen, neidischen Kollegen im Forschungsrat die Mittel an mich ausspuckten und sie nicht an ihre Kumpels vergaben.
Aber mit meinem zerfetzten Rücken sehnte ich mich jetzt nach diesen dänischen Tagesanfängen. Wie schön wäre es, wenn mir eine liebe Hand über den Rücken striche, wie schön wären ein Kuß und ein wenig Trost. Wie schön wäre ein normaler chaotischer Morgen statt hier allein im Hotelzimmer einer Stadt zu stehen, von der die meisten Dänen nicht einmal ahnten, wo sie auf der Karte zu suchen war. Ich ließ das Telefon klingeln, bis ich meine Stimme auf dem Anrufbeantworter hörte, und legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Warum waren sie nicht zu Hause? Wo zum Teufel war meine Familie? Vielleicht war mein Unmut irrational, aber ich fand, sie hatten dazusein, wenn ich sie brauchte. Als wenn ich immer da wäre, wenn sie mich brauchten. Und überhaupt, was konnten sie schon tun? Mich trösten. Mir sagen, daß sie mich liebten. Ist
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