Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
immer diesen leeren Blick, der es mir schwer machte, ihren wirklichen Gemütszustand einzuschätzen. Sie mußte eine hervorragende Pokerspielerin sein.
    »Ich würde dir gern noch ein paar Bilder zeigen. Und ein paar Briefe, die dein Vater schrieb und nie abschickte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, daß er seine Familie in Dänemark verließ. Besonders seinen kleinen Sohn.«
    »Mein Vater hieß Poul. Er war Lehrer und zog mich liebend auf wie sein eigenes Kind. Er adoptierte mich als seinen eigenen Sohn. Das Gespenst, das du aus der Vergangenheit heraufbeschwörst, kann ich nicht als meinen Vater begreifen. Möglicherweise hat er mir einen Haufen Gene vererbt, aber die Gefühle sitzen nicht im Sperma. Die entstehen im Zusammenleben mit anderen Menschen. Und jetzt möchte ich gerne ein bißchen allein sein.«
    Eigentlich war ich ziemlich erstaunt, daß ich mich so klar ausdrücken konnte, wenn man die Uhrzeit und meinen Zustand bedachte, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken.
    »Er bat um Vergebung«, sagte sie.
    »Und was ist mit meinen Geschwistern?«
    Wortlos holte sie noch ein Bild aus dem gelben Umschlag. Es war ein gewöhnliches, von einem Amateur aufgenommenes Farbfoto, aber es war scharf. Es zeigte eine Gruppe von Menschen bei einem Begräbnis. Sie standen mit entblößten Häuptern in klarer Frühlingssonne und schauten auf einen einfachen Fichtensarg, der in das ausgehobene Grab hinuntergelassen wurde. Das Bild schockierte mich mehr als alles, was sie bisher gesagt hatte. Denn in der Menschengruppe, die im übrigen einem beliebigen Trauergeleit auf dem Balkan glich, entdeckte ich meine Schwester Irma. Mit gebeugtem Kopf stand sie ganz außen zwischen vier älteren Männern. Das Bild war auf so große Entfernung aufgenommen worden, daß ich ihre Mienen nicht deuten konnte, aber meiner Meinung nach gab es keinen Zweifel, daß es sich um Irma handelte. Ich schaute noch einmal hin. Das mußte Irma sein. Es war ihre Körperhaltung, das kurze, fast wie bei einem Jungen geschnittene Haar und die scharfe Nase.
    »Er hat auch an sie gedacht, aber an dich dachte er am meisten. Vielleicht weil du der Kleinste warst. Er bat um Verzeihung.«
    »Was ist mit meinem großen Bruder?«
    »Ich glaube, er hat das Bild aufgenommen.«
    »Wann wurde das Foto gemacht?«
    »Am 17. Februar dieses Jahres«, sagte sie. »Einen letzten Frühling hat er nicht mehr geschafft.«
    »Warum hat mir keiner was gesagt?«
    »Du warst nicht so involviert wie die anderen. Du bist kein Kriegskind«, sagte sie.
    »Warum werde ich dann jetzt mit einbezogen«, sagte ich wütend.
    »Ist es so sonderbar, daß ein Mensch, der seinen Frieden mit Gott sucht, auch seinen Frieden mit den Menschen sucht? Die Vergebung zu erhalten, die wir als Christen zu geben erzogen worden sind.«
    »Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen«, sagte ich. Es wäre ja leicht gewesen, und dann wäre ich sie sicher auch ohne weitere Diskussionen losgeworden. Aber diesen Sieg gönnte ich weder ihr noch meinen Geschwistern, noch meinem biologischen Vater. Sollten sie doch in ihrem eigenen verräterischen Fett schmoren.
    »Möchtest du jetzt nicht gehen«, sagte ich bittend, statt sie einfach hinauszuschmeißen.
    »Selbstverständlich«, sagte sie förmlich, erhob sich und reichte mir die Hand. Meine fühlte sich schmierig und kalt an, ihre war trocken und kühl.
    »Können wir uns morgen sehen?« fragte sie und ließ meine Hand los.
    »Wir fahren nach Budapest«, sagte ich. »Wir können telefonieren. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken, was du gesagt hast.«
    »Okay, I am sorry«, sagte sie.
    »Ja«, sagte ich nur.
    Sorgfältig steckte sie das Bild in den gelben Umschlag zurück und legte ihn auf den Fliesentisch.
    »Sieh’s dir an, wenn du deine Gedanken geordnet hast«, sagte sie. »Da ist auch meine Adresse und Telefonnummer in Zagreb drin und Briefe von Vater. Seine Gedanken über dich und die Vergangenheit.«
    Sie ging zur Tür. Sie schien enttäuscht über meine abweisende Haltung und darüber, daß ich ihr keine Telefonnummer, Adresse und alles weitere gegeben hatte. Daß ich sie einfach aus der Tür haben wollte. Aber eigentlich nahm ich ihr das nicht ab. Sie war mir durch halb Mitteleuropa gefolgt. Wenn sie mehr von mir wollte, konnte sie mir auch noch nach Budapest nachreisen. Ich wußte nicht, ob ich noch einmal mit ihr reden wollte. Ich wußte nur, daß ich heute nacht nicht mehr mit ihr reden wollte. In der Tür wandte sie sich um, als wollte sie

Weitere Kostenlose Bücher