Die guten Schwestern
es nicht das, was wir in Wirklichkeit im Zusammenleben mit anderen erstreben? Geliebt zu werden?
Ich schaute mich in meinem Hotelzimmer um. Ich hätte an jedem beliebigen Ort der Welt sein können, an dem moderne Hotelketten mit professionellem Lächeln und effektiven, aber geschmacklosen Innenarchitekten und Dekorateuren einmarschierten. Frische Farben. Frische Möbel. Das einzige, was nicht frisch war, war der Geruch. Vielleicht war die Slowakei auf dem Weg in die Zukunft, aber hier roch es noch immer wie in alten Tagen. An die erinnerte auch das Denkmal, das die Stadt überragte und in seiner sozialrealistischen Monstrosität von der Befreiung der Tschechoslowakei durch die dahingegangene Sowjetunion Kunde gab. Noch ein Land, das es nicht mehr gab. Im übrigen herrschte in Preßburg genau das gleiche Durcheinander, das überall beim Übergang von real existierendem Sozialismus zu Demokratie entstand. Streifige alte Betonkästen vermischten sich mit McDonald’s-Läden und geklauten Westautos. Frisch restaurierte Häuser mit schönen, ockerfarben gestrichenen Wänden ließen sich nicht davon beeindrucken, daß ihre schwarzgrauen Nachbarn ein symbolischer Spiegel jahrzehntelanger kommunistischer Umweltverschmutzung waren. So flogen die Gedanken vom Hexenschuß über die chaotischen Morgen in Kopenhagen bis hin zum städtebaulichen Mischmasch in Preßburg. Weil ich mich vor Schmerzen nicht konzentrieren konnte. Ich stand am Telefon und versuchte die Optionen zu überblicken. Und mit diesem einen verfluchten Morgen fertig zu werden. Wenn ich das schaffte, würde ich nie wieder unzufrieden sein, das schwor ich mir.
Im Zimmer herrschte ein Tohuwabohu. Überall lagen Sachen und Bücher und alte Zeitungen herum, standen leere Gläser und volle Aschenbecher. Ein nicht gepackter Koffer, der halb offenstand und mich an ein höhnisches Maul erinnerte. Der dicke gelbe Umschlag lag dort, wo sie ihn hingelegt hatte. Meine angebliche Halbschwester, die sich Maria Bojić genannt hatte. Gab es sie überhaupt? Oder war sie nur eine Erscheinung gewesen? Ein psychedelisches Bild, eine Warnung der Seele. Achtung: Bald geschieht etwas Unangenehmes und Gefährliches! Als erster Teil deines über fünfzigjährigen Körpers gibt dein Rücken auf, aber das ist lediglich der erste Schritt, von nun an geht’s bergab, Herr Rat. Das war natürlich auch Quatsch. Der Umschlag lag ja wirklich da. Mit steifen Schritten und den Händen im Kreuz stakste ich zu dem Tischchen, nahm den Umschlag in die Hand und schaute hinein. Tatsächlich. Da lagen die Fotografien, einige handgeschriebene Briefe, einige Ausschnitte und ein paar maschinengeschriebene Seiten. Die Bewegung des Handgelenks, so vorsichtig und ruhig sie auch war, hätte ich nicht machen sollen. Gleich waren die Henkersknechte wieder da und bohrten mir ihre glühenden Eisen in den Rücken, so daß ich den Umschlag fallen ließ, als stünde er in Flammen und hätte mir die Hand versengt. Es hatte einfach keinen Zweck, also rief ich Lasse an, ehe mich mein Selbstmitleid total lähmen würde.
Der gute Mann kam auf der Stelle, überblickte rasch die Lage seines invaliden Freundes und erwies sich als hilfreich, ja, er hatte sogar ein paar tröstliche Worte parat, obwohl er die allgemeine Auffassung, daß ein erwachsener Mann mit Hexenschuß einen lächerlichen Eindruck macht, nicht so ganz verhehlen konnte. Es gibt ja nichts zu sehen. Nicht wie bei einer offenen Wunde. Daß ich mich quälte, merkte er natürlich, aber ich sah ihm an, daß er mir meine Schmerzen nicht so ganz abnahm. Lasse hatte nie eine andere Krankheit als eine kleine Erkältung gehabt, und ich wußte, daß er alle andern, bei denen das Alter kleine Warnsignale ausschickte, mehr oder weniger für Hypochonder hielt. Menschen, die einfach gesund sind und nicht mal etwas dafür tun müssen, sind die reinste Zumutung. Und zwar alle. Lasse war so ein Typ. Immerhin war er ein guter Freund. Ich tat mir selbst so unendlich leid. Meine Frauen waren wahrlich nicht immer derselben Meinung, aber in einem waren sie sich einig: Sollten die Märtyrer je einen Klub gründen, wäre ich als Vorsitzender konkurrenzlos.
Lasse packte meinen Koffer mit geübten Bewegungen, während ich kerzengerade auf dem Stuhl mit der hohen Lehne saß, der vor dem kleinen Schreibtisch stand. Ich erzählte ihm nichts von dem mystischen nächtlichen Gast, und als er den Umschlag hob, deutete ich nur auf meinen Koffer. Er legte ihn zuoberst. Ich bat ihn auch,
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