Die guten Schwestern
eine langsame, klagende Zigeunermelodie, die mich traurig machte. In Osteuropa wird auf der Straße immer musiziert. Es gibt genug ehemals beim Staat angestellte Symphoniker, die sich auf diese Weise ihr Brot verdienen müssen. Nirgendwo auf der Welt hat Straßenmusik eine höhere Qualität. Ich legte einige Münzen in seinen Hut. Immer gibt es einen Bettler ohne Beine, ein altes, in Tücher gewickeltes Mütterchen oder einen Krüppel mit nässenden Wunden. Die Kommunisten haben sie weggesperrt. Der Kapitalismus hat sie in all ihrer pathetischen Erbärmlichkeit hervorgeschwemmt. Es ist einfach, sich in der heutigen postkommunistischen Welt als Sozialist zu fühlen. Oder wohl eigentlich als Sozialdemokrat, mußte ich vor mir selber zugeben. Ihnen gab ich meine Stimme, aber das erzählte ich lieber keinem. Ich war einfach moderat links, wie ich es immer gewesen bin, mal abgesehen von den obligatorischen zwei Jahren während meines Studiums, wo mir bei den Linkssozialisten die Notwendigkeit der Revolution eingebleut wurde. Aber das war lange her. Und heutzutage bedeutete es nichts mehr. Die Leute in den schmalen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen schienen viel Zeit zu haben. Sie spazierten würdevoll dahin. Oft schwatzten junge Leute in ihr Mobiltelefon. Das war ganz klar das neue Statussymbol. Ich kam an einer Kneipe vorbei, die The Dubliner hieß. Sie hätte ebensogut in Kopenhagen oder Stockholm liegen können, nur nicht in Dublin. Von vorne bis hinten imitierter irischer Stil. Ich stellte mich an die Bar und bestellte ein pint. Hinsetzen wollte ich mich auf keinen Fall. So schwer, wie mir das Aufstehen fiel. Obwohl es mitten am Vormittag war, war der Laden gerammelt voll. Von Slowaken und jungen Ausländern, die von ihrer neusten Liebe und persönlichen Intrigen redeten. Alle waren sehr schick gekleidet. Etwas besser und moderner als ich aus dem reichen Westen, aber ich brauchte ja mit meinem Wohlstand auch nicht mehr zu prahlen. Die Kellnerinnen stolperten in weißen Minis, roten T-Shirts und Stöckelschuhen durch die Kneipe. Auf den eher plumpen slowakischen Beinen nahm sich das ein bißchen strange aus. Auf den T-Shirts stand in Brusthöhe »Food only«. An der Tür hing eine Stellenanzeige: »Food Waitress with experience wanted«. Eines Tages wird die ganze Welt so was ähnliches wie Englisch sprechen. Eine alte, gekrümmte Frau, die trotz der Frühlingssonne in einen fadenscheinigen Mantel und ein großes Tuch gehüllt war, ging an der offenen Tür vorbei. Sie hielt einen jungen Burschen fest, der sein Handy ans Ohr drückte, und zog ihre krumme, aderige Hand hervor. Er ging weiter, ohne sie zu beachten. Als auch neben mir ein junger Mann anfing, in sein Handy zu röhren, das sich mit der Melodie von »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus« bemerkbar gemacht hatte, hatte ich die Faxen dicke, ließ ein paar Kronen da und ging durch die eigentlich stillen Gassen zum Hotel zurück. Hier rief ich noch einmal Janne an, erreichte aber wieder nur den AB. Ich hinterließ eine ärgerliche Nachricht, wo sie sich eigentlich herumtreibe und um wieviel Uhr ich heute abend ankäme und ob sie mich nicht am Flughafen abholen könne. Schließlich habe sie das Auto. Ich rief im Institut an, wo ich erfuhr, daß sie sich ein paar Tage lang nicht hatte blicken lassen. Sie hatte sich krank gemeldet, sagte die Sekretärin mit schlecht verhohlener Schadenfreude. Nun hatte man in der Mittagspause ein Thema, über das man sich das Maul zerreißen konnte.
Ich war übelster Laune, als ich im Taxi durch die graubraunen, stalinistischen Betonvorstädte fuhr, wo ich jeden Augenblick mit einer Zementfabrik rechnete, die stolz proklamierte, daß sie unverdrossen die Erfüllung des genialen Fünf-Jahres-Plans der Partei anstrebte, und im übrigen die unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion feierte. Statt dessen sah ich Reklame für Sony und Marlboro.
Der Flughafen war wüst und leer und ähnelte eher einem tristen Provinzlandeplatz am Anus mundi als dem Airport einer Hauptstadt. Mit seinem falschen Marmorboden, seinem offensichtlichen Mangel an Passagieren, seinen spärlichen Abflügen auf der Anzeigetafel und seinem Geruch nach dahingegangener Sowjetzeit offenbarte er, daß die Slowakei nach wie vor ein europäisches Krähwinkel war. Die slowakische Fluggesellschaft konkurrierte in einem kleinen Schilderkrieg mit der russischen Aeroflot. An der Abfertigung oder in dem kleinen Büro unter dem prangenden Schild
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