Die guten Schwestern
lange, merkwürdige Pausen in unseren Gesprächen. Mein großer Bruder war ein bodenständiger Mann, der etwas so Notwendiges und Grundlegendes wie Brot herstellte, und es fiel ihm oft schwer, meine eher luftigen akademischen Überlegungen ernst zu nehmen. Seine Welt war unermeßlich weit von der meinen entfernt. Er war ja auch so viel älter. Wir hatten nie viel gemeinsam gehabt. Ich wußte auch, was er sagen würde, wenn ich ihm die Geschichte erzählte. Da solltest du lieber mit Irma drüber reden, würde er sagen.
Ich überlegte, meine Sachen zusammenzupacken und den Rechner abzuschalten, statt auf meinen Kunststoffteppichboden und meine Betonwände zu starren, wo alte, schöne sowjetische Propagandaplakate einen gewissen Schmuck in die ganze Tristesse brachten. Eines von ihnen zeigte einen muskulösen Arbeiter und eine blonde Frau. Der Arbeiter trug einen Blaumann und schaute mit gestähltem Blick in die sozialistische Zukunft, während seine kräftige Faust einen Hammer umklammerte, die brave blonde Arbeiterin sah ihn bewundernd an, das güldne Haar von einer Sichel umrahmt. »Gemeinsam marschieren wir dem Sozialismus entgegen. Die Partei führt uns an«, stand dort in den schönen kyrillischen Buchstaben. Man konnte Rotz und Wasser darüber heulen, wie sehr sich die Welt verändert hatte.
Ich versuchte mein Glück und wählte Lasses Durchwahlnummer, und wunderbarerweise antwortete er. Er war Sonntag nachmittag nach Hause gekommen, und die fleißige und gewissenhafte Biene hatte natürlich noch am Montag früh im Büro vorbeigeschaut, um sich zu versichern, daß die Studenten ihren Papa nicht vermißten. Einigen hatte er wirklich gefehlt, aber er wollte sich gern mit mir treffen, sobald er mit ihnen gesprochen und sie wegen ihrer Examensarbeiten beruhigt und sie in der Überzeugung wieder weggeschickt hatte, daß sie das Größte seien, was die Uni je hervorgebracht habe. Das Talent hatte er. Aber er wolle gern mit mir zu Mittag essen.
»Ich habe viel zu berichten«, sagte er wie ein großer Globetrotter, der aus fernen Gefilden in die Heimat zurückgekehrt war.
Ein paar Stunden später erschien er langgliedrig und mit seinem stillen Lächeln in der Tür eines meiner Lieblingsrefugien im königlichen Kopenhagen, des kleinen Smörrebrödlokals »Restauranten med det grønne træ« am Gammel Torv. Mit einem Schnaps und einem großen Bier im Magen und mit der Vorfreude auf ein Heringsbrot und eine Schnitte mit Roastbeef und noch einen Schnaps und ein großes Bier vom Faß sah die Welt ganz vertrauenerweckend aus. Der kleine niedrige Raum dampfte geradezu vom Küchenduft und vom Tabakrauch der Gäste, die in Erwartung eines guten Essens, das die Gesundheitsfanatiker noch nicht verboten hatten, beinah vor sich hin summten. Ich saß an einem Fenstertisch rechts der Tür und beobachtete die frühlingsblassen Kopenhagener, die draußen vorüberhasteten. Aber das Märzlicht war schon schön, grau vielleicht, aber mit goldenen Streifen, die andeuteten, daß der April hinter der nächsten Ecke lauerte. Es leuchtete in einer frisch geputzten Fahrradspeiche, daß man an Poul Henningsen denken mußte, und die Optimisten gingen mit schnellen Schritten und aufgeknöpften Mänteln. Der jämmerliche Baum, der dem Restaurant seinen Namen gab, hatte Knospen, die kurz vor dem Aufspringen standen und mich an die Erotik denken ließen, die aus meinem Leben verschwunden war. Mein Rücken wollte noch nicht so richtig spuren, aber es ging schon viel besser. Ich mußte mich immer noch davor hüten, zu abrupt aufzustehen, und ich hielt meinen Kopf noch ein wenig steif, aber es war ein Fortschritt zu verzeichnen, und wenn die Welt auch nicht gerade jung und reizvoll erschien, so sah sie doch schon bedeutend vielversprechender aus als gestern.
Wir reichten uns die Hand, Lasse setzte sich, und ich bestellte einen Schnaps und ein Bier vom Faß für ihn, obwohl er den Kopf schüttelte. Und noch ein Gedeck für mich. Das eine oder andere Vergnügen darf doch wohl erlaubt sein, wenn einen die Frau verlassen und das Auto mitgenommen hat.
In Budapest war es offenbar ziemlich dramatisch zugegangen. Niels war nicht zum Frühstück erschienen, und man hatte Charlotte zu ihm geschickt, um ihn zu wecken. Sie hatte den ganzen Weg zum Frühstücksraum zurück geschrieen. Lasse war mit ihr hinaufgerannt und hatte Niels mit zerschmettertem Kopf auf dem Boden liegend aufgefunden. Das Zimmer sah aus, als hätte ein Orkan gewütet. Alles flog herum.
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