Die guten Schwestern
Dann wurde es ziemlich chaotisch. Der Arzt kam, und die Polizei verhörte alle, aber keiner konnte etwas sagen. Am Abend zuvor waren sie beim Innenminister gewesen, dann hatten sie in der Bar noch etwas getrunken und waren kurz vor Mitternacht schlafen gegangen.
Das Nachtpersonal, das nach der Ablösung durch das Frühteam nach Hause gegangen war, wurde geweckt und zum Tatort gebeten. Der Nachtportier hatte nichts gesehen. Es hatte, wie er sich diplomatisch ausdrückte, lediglich den üblichen Verkehr junger Damen gegeben, die einsame Herren auf ihren Zimmern besuchten, aber er kannte sie alle. Sie würden trotzdem verhört werden.
»Es war ein hoffnungsloses Durcheinander, Teddy«, sagte Lasse zwischen zwei Bissen. Offenbar schmeckte es ihm. Auch mein gebratener, warmer Hering war ein Genuß, fest und leicht säuerlich, und paßte hervorragend zu den gedünsteten Zwiebeln und dem kühlen Bier. »Sie haben Fragen gestellt, die in hundert verschiedene Richtungen gingen, aber irgendwie wurde man den Eindruck nicht los, es sei fast Routine, daß ein ausländischer Gast mitten in der Nacht in einem feinen Hotel in Budapest ermordet wird. Es war schon komisch.«
»Das ist die neue Weltordnung«, sagte ich und hob das Schnapsglas. »Auf das Leben!«
»Du kannst ganz schön morbid sein«, sagte er, stieß aber trotzdem mit mir an.
»Ist dir eigentlich klar, daß es mich hätte erwischen können?« sagte ich.
Er verstummte. Das war ihm anscheinend noch nicht in den Sinn gekommen. Ich sah ihm an, daß er es nicht so direkt sagen würde, aber ich glaube, er war froh, daß Niels ermordet worden war und nicht ich. Ethisch war es sicher verdammenswert, aber diese Erkenntnis bereitete mir tatsächlich Freude. Auf diese Weise bestätigt zu bekommen, daß er mich mochte. Denn ich mochte ihn ja auch.
Wir tauschten uns noch mal über die Einzelheiten des Vorfalls aus, während wir unser Roastbeef und noch ein Brot mit Käse aßen, bevor wir den Kaffee bekamen. Charlotte tat uns leid, und natürlich war es seltsam, daß Niels nicht mehr unter uns war, wie man so sagt, aber so gut kannten wir ihn ja auch nicht. Und leider war er nicht der einzige in unserem Bekanntenkreis, der uns verlassen hatte – noch so eine Umschreibung, die den Tod erträglicher macht. In unheimlicher Geschwindigkeit waren mehrere Kollegen vom Herzinfarkt erwischt worden. Langsam bezahlten wir den Preis dafür, gelebt zu haben. Am Ende wurden wir uns einig, daß die Sache mit Niels ein Raub gewesen sein mußte, der unglücklich ausgegangen war. Beim Kaffee erzählte ich ihm dann die traurige, banale und langweilige Geschichte von Janne und mir. Es war keine große Überraschung für ihn.
»Vielleicht ist es nur eine Pause«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Ich glaube nicht an Liebespausen. Ich glaube, Janne ist tatsächlich in den Penner verliebt. Oder jedenfalls in die Tatsache, daß er sie begehrt.«
»Du mußt lernen, in deine Beziehungen etwas mehr von dir selber zu investieren«, sagte Lasse mit einer Einsicht, die er mir gegenüber noch nie gezeigt hatte. Obwohl wir ein Produkt der sechziger und siebziger Jahre waren, in denen ständig verlangt worden war, seine Gefühle auszudrücken, hatten wir in den letzten zwanzig Jahren über Gefühle nicht viele Worte gemacht. Der Softie war in den Achtzigern vom Yuppie verdrängt worden.
»Wer sagt, daß ich noch mal eine Beziehung eingehe«, sagte ich.
»Normalerweise kannst du die Finger doch nicht von den Frauen lassen«, sagte Lasse. »Und vielleicht bist du ja auch klüger geworden.«
»Das halten meine Frauen für völlig unmöglich«, sagte ich. Wir mußten beide lachen. Wir fühlten uns einfach wohl in der Gesellschaft des andern.
Meine Stimmung hatte sich merklich gebessert, und ich bezahlte unsern Mittagsimbiß. Wir verabschiedeten uns vor dem Restaurant, und er entfernte sich mit langen schlaksigen Schritten in Richtung Nørrebro. Ich ging auf den Rathausplatz zu, um die Steifheit aus meinem Rücken zu vertreiben. Die Sonne schien, die Spatzen zwitscherten, als ob sie Geld dafür bekämen, und ich war so angenehm beduselt, daß das Licht gleichsam über die Gesichter der Menschen tanzte. Am Rathausplatz warf ich einen Blick auf die Leuchtschriftnachrichten von Politiken. Nach einer Werbeunterbrechung kam die Meldung: Dänin wegen Spionage für die Stasi verhaftet. Noch so eine, dachte ich bloß und spazierte in dem herrlichen Sonnenlicht weiter. Ich hatte alle Zeit der Welt
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