Die guten Schwestern
riß mich aus meiner Geistesabwesenheit.
Es war mein älterer Bruder Fritz. Der brave Bäcker klang nicht wie sonst. Sein fünischer Dialekt war noch ausgeprägter als üblich, aber seine Stimme war mindestens eine Oktave höher.
»Hallo, Teddy. Es geht um Irma. Sie wurde verhaftet… Was sollen wir tun?«
»Was erzählst du da für Sachen, Fritz? Wo ist sie denn?«
»Die Polizei hat mich angerufen. Sie ist im Präsidium in Kopenhagen. Was soll ich machen?«
»Beruhige dich, Fritz. Hat sie einen Anwalt?«
»Ich weiß es nicht, Teddy. Was soll ich denn hier auf Fünen tun? Ich kann doch nichts machen von hier aus. Was ist denn bloß los? Irma hat doch nichts getan!«
»Beruhige dich, Fritz«, wiederholte ich wie ein Hirntoter, während ich fieberhaft versuchte nachzudenken.
»Weswegen haben sie sie verhaftet?«
»Darüber wollten sie nichts sagen.«
»Sie müssen doch irgendwas gesagt haben.«
»Sie haben gesagt, sie ist eine Spionin«, sagte mein Bruder dann. »Was soll denn das alles bedeuten, Teddy?«
Das wußte Teddy auch nicht, aber Fritz ging fest davon aus, daß Teddy das schon herausfinden würde.
6
A uf Fritzens Anruf folgten einige chaotische Tage. Irmas Name durfte in der Presse nicht veröffentlicht werden. Sie befand sich bei absoluter Nachrichtensperre in strenger Einzelhaft, die Medien durften lediglich bekanntgeben, daß sie wegen schweren Landesverrats festgenommen worden war – ein Delikt, das gemäß dänischem Strafgesetz nicht unter die Verjährung fällt. Aber die Medien hatten doch eine Menge Informationen. So daß sie fröhlich drauflosschrieben und darüber spekulierten, ob das nun der große Fisch sei, auf den seit dem Fall der Mauer alle Welt gewartet hatte. Sie beriefen sich auf ihren Decknamen, der offenbar »Edelweiß« lautete. Schon um 21 Uhr desselben Tages sendeten die Fernsehnachrichten eine größere Reportage. Und die Morgenzeitungen berichteten ausführlich über den Fall. Sie hatten teilweise Zugang zu dem Material gehabt, das Edelweiß der Stasi in Ostberlin übergeben hatte. Es erstreckte sich vom Anfang der siebziger Jahre bis zum Beginn des Jahres 1988. Es waren überwiegend Banalitäten wie die Ölpolitik oder Dänemarks Sicht der sicherheitspolitischen Lage im Ostseeraum. Aber auch ernstzunehmende Sachen wie Karten von den dänischen NATO-Depots und Pläne von den Stellen, an denen im Ernstfall Minen ausgelegt werden sollten. Die Zeitungen schrieben auch, »Edelweiß« habe von vertraulichen NATO-Treffen berichtet. Aber, Herrgott noch mal, wie soll Irma denn Zugang zu ihnen erhalten haben? Irma hat ihr ganzes Leben unter ihrer intellektuellen Käseglocke zugebracht, ohne sich um die wirkliche Welt zu kümmern, und nur einmal einen Studentenjob im Unterrichtsministerium gehabt. Zu derlei Unterlagen hatte sie nie Zugang gehabt. Abgesehen davon, hätte sie einen NATO-Job sowieso nicht bekommen, selbst wenn sie sich darum beworben hätte. Sie war eine leuchtend rote Revolutionärin, was sie in ihren vielen Beiträgen über die Notwendigkeit der Revolution in diversen obskuren linken Zeitschriften und der Tageszeitung Information auch offen zur Schau stellte. Sie war in immer wieder neuen linksradikalen Parteien organisiert gewesen, bis das Alter (und der Fall der Berliner Mauer) sie klüger gemacht hatten. Außerdem habe ich sie nie als Anhängerin der untergegangenen DDR erlebt. In ihrer Jugend schwärmte sie eher für solche Typen wie den Vorsitzenden Mao oder, Gott sei’s geklagt, Pol Pot. Jetzt war sie Professorin am RUC, dem Roskilde Universitets Center. Dänemark ist ein tolerantes und nicht nachtragendes kleines Land. Hier bedeuten Worte nicht soviel.
Ich wurde nicht viel klüger aus der Zeitungslektüre, obwohl das Thema groß aufgezogen wurde. In Roskilde wußten ja alle, daß es um Irma ging, aber es verrät schon eine Menge über die Veränderung der Welt, daß sich die Kollegen sehr bedeckt hielten. Nichts da mit Protestieren oder Leserbriefe schreiben. Der Wind über Dänemark wehte gesund und kraftvoll von rechts, und die alten Linken krochen vor dem Sturm in Deckung. Zehn Jahre bevor die eigene Pension unter Dach und Fach war, wollte sich keiner zu weit aus dem Fenster lehnen. Sie wußten genau, daß die Teilnahme an einer Friedensdemo oder an einer Delegation nach Moskau mit spendiertem Mittagessen in Zeiten des kalten Krieges ausreichte, damit Jyllands-Posten oder Ekstra Bladet die Betreffenden als Spione oder schwanzwedelnde kommunistische
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