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Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Titel: Die Habenichtse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hacker
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Fünfjährige zuglitt, ohne weiteres über sie hinweggetragen worden wäre, hätte nicht mit Erschrecken einer der Träger das Kind bemerkt und durch seinen Warnruf beinahe die Katastrophe herbeigeführt. Der Flügel rutschte in die Schräge und hielt sich nicht, vielleicht waren vor Schrecken die Hände (aber trug man keine Handschuhe?) schweißnaß geworden, das Instrument schlingerte noch einen Moment und prallte dann auf die Granitstufen, mit einem kläglichen Ton, leiser als zu erwarten, jedoch so unglücklich, daß ein Bein abbrach und der Korpus sprang. War die Katastrophe eingetreten oder vermieden? Die Mimsel, ihr Kindermädchen, habe sie gepackt und im Arm gehalten, obwohl aus einer Platzwunde am linken Auge das Blut nur so herabgeströmt sei – die Narbe sah Andras nicht, der sich wieder hingesetzt hatte, aufs Sofa, neben Isabelle, vor ihnen seine Zeichnungen und Bilder wie ein Spuk, er hätte mit dem Finger über die Narbe streichen müssen, um sie zu ertasten. Er hatte es nicht getan, die Liste der Versäumnisse war länger geworden. Schlagartig begriff er, daß jede Kindheit, ob glücklich oder unglücklich, eine Auflistung des Überlebens und eine der Fremdheit war, eine Geschichte des Exils und der Scham. Besagte Mimsel hatte Isabelle ins Krankenhaus gebracht, das eigentliche Drama, erzählte sie, war aber die Krankheit ihrer Mutter, die sich nicht ins Sterbebett, aber doch auf eine Chaiselongue legte und den Tod erwartete, der nach einem Jahr tatsächlichen oder eingebildeten Siechtums eine Kehrtwendung machte und im Nebel seiner zeitlichen Ungewißheit wieder verschwand, womit er Frau Metzel der nicht zu rechtfertigenden Ewigkeit eines schon abgelegten Lebens überließ. Ebenso verzweifelt wie über den drohenden Tod sei ihr Vater, ein bekannter Heidelberger Rechtsanwalt, über dessen Nicht-Eintreten gewesen, und aus Entsetzen habe er ein gigantisches Fest organisiert, das die zweite, betrübliche Phase von Isabelles Kindheit einläutete, ein unablässiges gesellschaftliches Treiben, das sie hinter Stapel von Tellern und unter riesigen Tabletts mit Cocktails verbannte, in der Gestalt des häßlichen Entleins. Andras war sich sicher, daß er der erste männliche Adressat dieser Erzählung war, und er begriff das Geschenk. Es ließ sich aber aus diesen Versatzstücken und Anekdoten keine wirkliche Geschichte machen, alles blieb seltsam matt, so daß Andras und Isabelle nichts einfiel, als wie Brüderchen und Schwesterchen nebeneinanderzusitzen, um wenigstens der Peinlichkeit einer Affäre unter Kollegen zu entgehen, und nur Andras hoffte brennend, es würde mit ihnen doch anders kommen. Aber es fiel ihm nichts ein, um den Kokon, in dem Isabelle steckte, zu zerreißen.
    –Mach ihr einen osteuropäisch-melancholischen Heiratsantrag mit Handkuß und roten Rosen, hatte La´szlo´ ihm später – zu spät – gesagt, und obwohl er die Vorstellung noch immer abgeschmackt fand, hatte Andras sie als Versäumnis registrieren müssen, denn es wäre gescheiter gewesen als seine zögernde Idee, sie als Liebhaber zu erobern. Zögernd, weil er sich nicht sicher sein konnte, ob er als überraschender Liebhaber gegolten hätte, mehr noch aber, weil es nicht das war, was er wollte. Er liebte sie, es war eine herzzerreißend simple Tatsache.
    Da zuviel Zeit verstrichen war, wurde gleichgültig, ob jener Abend ein Versäumnis oder unbarmherzige Wahrheit gewesen war – Isabelle hatte sie beide so entschieden als Brüderchen und Schwesterchen zusammengefügt, daß sie ihm als erstem von ihrer Wiederbegegnung mit Jakob erzählen konnte. Und damit war es an der Zeit, alle Hoffnung aufzugeben: Er, Andras, ihr Ritter und treu bis in den Tod, hatte sich selbst zur komisch-traurigen Gestalt gemacht. Wie auf den Leib geschneidert, längst mit ihm verwachsen war diese Rolle.
    Fahr endlich nach Budapest, du hast hier nichts mehr verloren.
    Verloren drangen die Geräusche vorbeifahrender Autos herauf, die Kirchuhr schlug schon neun Uhr. Sie würde nicht mehr kommen.

7
    Am späten Nachmittag stellte sich heraus, daß sein Kollege Robert noch in New York gewesen war. Von den zweiunddreißig Kollegen in der Kanzlei war Robert derjenige, mit dem Jakob am meisten verband. Sie arbeiteten Tür an Tür, beide mit derselben Sekretärin, Julia, und sie wußten, daß einer von ihnen beiden – wahrscheinlich Robert – nach London geschickt werden würde. Beide großgewachsen, gleich alt, auf angenehme Weise gutaussehend, galten als

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