Die Habenichtse: Roman (German Edition)
Freunde: Sie trafen sich hin und wieder in einer Ausstellung, zuweilen tranken sie im Würgeengel ein Glas Wein zusammen. Über die Möglichkeit, für ein oder zwei Jahre nach London zu gehen, hatten sie nie gesprochen, beide wollten nach London, beide wußten, daß keiner versuchen würde, den anderen bei Schreiber auszustechen. Robert, der ein Jahr lang in London studiert hatte, war die plausiblere Wahl.
London war das erste, woran Jakob dachte, als Julia in sein Zimmer kam, eine ausgedruckte E-Mail in der Hand, auf häßliche Weise gefaßt, nur ihre Hände ruderten fieberhaft herauf und herunter. –Er wollte mit dem ersten Flug nach Chicago, ich habe die zweite Mail gestern nicht mehr gelesen. Jakobs Gesicht brannte; immer wieder, stupide und beschämend, ging ihm derselbe Satz durch den Kopf: Das heißt, daß ich nach London gehe. Er stand auf. Es kam ihm vor, als bewege er sich nicht, sondern gleite von einer Position in eine andere, ohne etwas zu tun. Das Telefon war in seiner Hand, er wählte Roberts Handy-Nummer und hörte dreimal die Ansage, Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar . Heute abend war er mit Isabelle verabredet. Und da stand Julia, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schreibers Büro war im obersten Stockwerk, Jakob ging durchs Vorzimmer und wortlos an Frau Busche vorbei; Schreiber geriet in Wut, wenn man ihn unangemeldet störte, alle fürchteten seine Ausbrüche, aber diesmal konnte Jakob nichts aufhalten, heute nicht und nicht in nächster Zeit. Schreiber musterte ihn verblüfft, und einen Augenblick mischte sich Jakobs Gewißheit mit Kummer und Zweifel, der so profund war, daß seine Hände zitterten. Er hatte Isabelle gefunden, er würde nach London gehen, aber der Preis, wenn Roberts Tod der Preis war, war höher als gedacht. In zwei Sätzen informierte er Schreiber, sie schienen überflüssig, wie ein allzu absehbares Argument. Kaum anzunehmen, daß Robert noch lebte. Er hatte einen Mandanten im World Trade Center vor der Abreise nach Chicago noch einmal aufsuchen wollen. Schreiber ging ins Vorzimmer, sagte sehr leise etwas zu Frau Busche, und Jakob bemerkte, wie dunkel es im Zimmer war, durch die schweren Vorhänge stahlen sich nur vereinzelt Sonnenstrahlen, die Schreibtischlampe war auf den dunkelblauen Teppich gerichtet, der das meiste Licht schluckte. –Bentham wird es schwer nehmen, sagte Schreiber, als er zurückkam. Bentham war Schreibers Partner in London. Frau Busche versucht über einen Freund von mir, in den Krankenhäusern nach ihm suchen zu lassen.
Erst beim dritten Mal hörte Jakob die Frage des Barkeepers und bestellte einen Whisky. Er rieb sich mit den Händen die Stirn und die Augen, griff nach dem Glas und trank einen großen Schluck. Jeden Moment konnte Isabelle durch die Tür hereinkommen, und er würde ihr von Robert nicht erzählen, auch nicht von Frau Busche, die geweint hatte und aufgestanden war, um ihn zu umarmen, als müsse sie sich vergewissern, daß er, Jakob, noch lebte. Irgend etwas erinnerte Jakob an den Tod seiner Mutter, aber da fand sich nichts, keine Verbindung, keine wirkliche Erinnerung. Man mußte abwarten, und nicht einmal lange, bis das Entsetzen, bis auch diese Episode Vergangenheit war. Zu Hause hatte er sein verschwitztes Hemd ausgezogen und geduscht, um abzuwaschen, was sich gegen seinen Willen wie ein dünner Film über seinen Körper gelegt hatte. Nach kurzem Zögern hatte er das Bett frisch bezogen und die Waschmaschine angestellt. Von seinem Vater war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter gewesen, ein Gruß und der etwas rätselhafte Satz Anscheinend ist ja alles in Ordnung . Sein Vater machte sich sicherlich keine Sorgen, wußte nicht einmal, daß Jakob in New York gewesen war. Die Uhr zeigte Viertel nach acht. Über den Tresen wurden Gläser hin und her geschoben, die Bar hatte sich gefüllt, vermutlich fing im Babylon bald ein Film an, keiner setzte sich, obwohl genug Plätze frei waren, eine Frau lachte schrill, ihre Haare standen wie eine Bürste nach allen Richtungen, sie schaute ihn an, hob ihr Glas, prostete ihm zu.
Und da war Isabelle.
Sie stand neben ihm, ihr glattes Haar glänzte, sie hob ihr Gesicht zu ihm auf, jemand streckte rücksichtslos seinen Arm nach einer Bierflasche aus, schob den Arm zwischen ihnen hindurch, trat langsam den Rückzug an. Für eine Sekunde nur hatte er Isabelles Gesicht verdeckt, es war verschwunden, ausgelöscht, und zum zweiten Mal an diesem Tag durchfuhr Jakob
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