Die Habenichtse: Roman (German Edition)
Kinderlieder gesummt. –Du solltest mitkommen, nach Hause. Die Haare des Pelzes (ein sibirischer Silberfuchs, behauptete Tante Sofi) fand er immer noch auf dem Bezug und seinen Pullovern, und Tante Sofi war tot. –Du bereitest ihm Verdruß, hatte sie Andras zum Abschied gesagt und hinter sich gezeigt, als säße dort sein Onkel Janos.
Er war geblieben. Seit Isabelle angefangen hatte, im Büro zu arbeiten, war es für ihn letztlich undenkbar, Berlin zu verlassen, ihre Stimme nicht mehr zu hören, kindlich hell und ohne Tiefe, unerwartet in ihren Verzögerungen, Abbrüchen, eine Stimme, die dahinglitt wie ein kleines Schiffchen aus Zeitungspapier, das plötzlich versank, oder davonstürmte wie der hüpfend aufleuchtende Schulranzen auf dem Rücken eines rennenden Kindes. Was ihn verblüffte, waren ihre Gutartigkeit und eine Art Gleichmut, darunter der unausrottbare Kern Hoffnung, dann und wann ein Ausbruch oder die kleine, gezähmte Gemeinheit, die fast alle mit sich herumtrugen wie ein schmutziges Taschentuch. Aber er liebte Isabelle. Er konnte an nichts anderes denken, und endlich, nachdem er sich gewehrt und gescholten und zur Ordnung gerufen hatte, akzeptierte er, endlich, endgültig, daß es keine Lebensordnung für ihn gab, so oder so, ob in Budapest oder in Berlin. Und wer würde ihn wiegen und für zu leicht befinden? Er war eine Randfigur, ein Fremder, ein disziplinierter, unauffälliger Vagabund. Vor siebenundzwanzig Jahren hatten seine Eltern ihn zum Flughafen gebracht, damit er seine Tante und seinen Onkel in West-Berlin besuche, ohne ihm zu sagen, daß er nicht zurückkehren solle. Die Tränen seiner Mutter hatten ihm die Abreise verdorben, seine erste Reise in den Westen, kein Grund zu heulen, und hinter seiner vierzehnjährigen Rüpelhaftigkeit versteckte er die eigene Bangnis, die sich Monate später entlud, als seine erste Liebe, Anja, ihm den Laufpaß gegeben hatte und er begriff, daß er nie nach Budapest zurückkehren sollte. –Wenn deine Eltern Rentner sind, tröstete ihn Tante Sofi und brachte mit der Hand Onkel Janos’ Schnaufen zum Schweigen, dann kommen sie uns besuchen. Doch Onkel Janos’ Schweigen war beredter, und Andras begriff. Sobald sein Deutsch gut genug war, schrieb er Anja sehnsüchtige Briefe nach Wilmersdorf; er weigerte sich, seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester zu schreiben. Er weigerte sich, Ungarisch zu schreiben, bis fünf Jahre später sein Kindheitsfreund La´szlo´ nach Ost-Berlin kam. Von dort schrieb er Andras, und Andras antwortete, ohne auf die begierigen Fragen seines Freundes einzugehen. Die Jahre, seine ganze Jugend entlang und dann immer weiter, verstrichen wie einer der Nachmittage, die er auf der Wilmersdorfer Straße oder der Potsdamer Straße verbrachte. Alleine oder mit mehreren Jungs, auf den Boden spuckend, rauchend, auf Mädchen wartend, wie in einem ewigen Vorort, aus dem man sich wegsehnte, nur weg und kein Wohin, Bier später, ein paar kleine Diebstähle, Andras’ Glanzleistung blieb ein Rasierapparat von Braun, und Bücher, seine Freunde lachten ihn aus, um zehn Uhr spätestens zu Hause, mit siebzehn noch, und wenn er die anderen zum Stuttgarter Platz begleitete, einige mit Fahrrädern unterwegs, andere zu Fuß oder als Schwarzfahrer, zum Bahnhof Zoo, hatte er Angst. Das bißchen Klauerei. Ein Joint. Demonstrationen. Mädchen. Andras ging in die Klavierstunde und machte keine Fortschritte. Daß er fast nicht sprach, bemerkte Tante Sofi nicht, weil sie selber redete, und Onkel Janos schwieg noch hartnäckiger als sein Neffe. –Misch dich nicht ein, sagte mit aufgeregter Stimme Tante Sofi, wenn Andras eine Zeitung ins Haus brachte, das geht uns nichts an. Euch bestimmt nicht, hatte Andras wie in leeren Raum hineingedacht, Onkel-Gespenst, Tante-Gespenst, zwei lästige, rührende Alte, petrefakt, unpassend wie ein Ponygespann auf dem Ku’damm. Oder die Schwärmerei seiner Tante für den Astronauten Armstrong. Mit ihm einmal tanzen! Auch dazu schwieg Onkel Janos, ging früh ins Krankenhaus, kam immer später zurück. Andras registrierte seine Existenz erst, als Janos Szirtes 1977 einen Fernseher kaufte und sich für den deutschen Herbst interessierte. –Man weiß nicht, wie man leben soll, sagte sein Onkel ihm, ein paar Leute umbringen hilft da auch nicht viel. Er wies auf die Schlaghosen seines Neffen, willst du nicht deiner Schwester ein Paar schicken? Eines der unverzeihlichen Versäumnisse, wußte Andras, aber die Liste war zu lang, um
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