Die Habenichtse: Roman (German Edition)
nagender Zweifel, Kummer. Fast erwartete er, daß Isabelle tatsächlich wieder verschwunden wäre, nach all den Jahren, um ihm zu beweisen, daß seine Ansichten und Pläne lächerlich waren. Doch da stand sie noch, ungerührt, beinahe so, als hätte sie ihn während dieser Sekunde sehen können, sie lächelte ihn an und trank aus seinem Glas, die Begrüßung hinfällig machend. Er wartete, bis sie das Glas abgesetzt hatte, und küßte sie, sehr sanft, auf den Mund. Lange blieben sie nicht.
Zehn Tage später bat Schreiber Jakob, am 4. Oktober zu Roberts Beerdigung nach Hannover zu fahren, und fragte ihn, ob er zum Jahresbeginn 2003 nach London wechseln wolle.
Am Bahnhof wunderte sich Jakob, daß die Beerdigung erst jetzt, drei Wochen nach Roberts Tod stattfand. Die Zeit war schnell vergangen, Jakob hatte Isabelle nur fünf- oder sechsmal treffen können, doch war sie diese Nacht bei ihm geblieben, in seinem Bett, schlief noch, als er aufstand, sich hinausschlich, um zum Bahnhof zu fahren.
Der Tag war regnerisch und unangenehm. Jakob ging ins Zug-Bistro, stand gebückt, um aus dem Fenster in die graue, flache Landschaft zu starren, trank Kaffee und rauchte. Auf dem Friedhof würde es kalt sein, doch vermutlich gab es keinen guten Tag, um beerdigt zu werden, wenn man dreiunddreißig Jahre alt gewesen war, und wahrscheinlich würde es, da es keine Leiche gab, auch keinen Sarg geben und kein Grab, sondern nur einen Stein und eine Predigt. Er mußte nicht mehr tun, als den Eltern sein Beileid, das Beileid der ganzen Kanzlei auszusprechen, den Kranz, der telefonisch bestellt war, auf das zu legen, was kein Grab war. Den Atem anhalten, damit Zufall blieb, was Robert und ihn verbunden hatte und jetzt trennte, Koinzidenz, nicht Tausch, nur die rätselhafte, uneinsehbare Überschneidung zweier Linien, ebensowenig einsehbar wie der Punkt, an dem die Parallelen sich doch berührten. Sie liefen, dachte Jakob, wieder auseinander, in unermeßlich kleinen Schritten entfernten sie sich voneinander. Keine weitere Begegnung. Wie Übelkeit drückte ihn die Landschaft nieder. –Aber was schuldest du ihm? hatte Hans gefragt, als Jakob ihm erzählte, er fahre zu Roberts Beerdigung. Da waren schon die ersten Häuser, ein Bahnsteig, gleich wieder Häuser, umgeben von kleinen Gärten. Er wünschte, er hätte Hans’ Angebot, ihn zu begleiten, angenommen.
Es war wirklich regennaß und windig, gegen jede Vernunft gab es einen Sarg, ein Grab, der Zug der Trauernden scharte sich darum, auf den leeren Sarg eine Handvoll Erde zu werfen, um endlich zu fühlen, mit eigener Hand, was über sie hereingebrochen war vor drei Wochen. Roberts Eltern standen dicht an dem Abbruch der frisch ausgehobenen Erde, gaben keinem die Hand. Sie sahen nicht auf, als das Defilee der Trauergemeinde unter Anleitung des Pfarrers sich neu aufreihte, hoben nur ein einziges Mal den Kopf, gleichzeitig und erschreckt, starrten Jakob an, sein vom Regen dunkles Haar, sie nahmen Maß an ihm, spürte er, um jeden weiteren Tag zu wissen, was sie verloren hatten.
–In gewisser Weise, hatte er Hans gesagt, als sie, ein einziges Mal, über den Tod seiner Mutter gesprochen hatten, ist der Tod ein Wechsel der Besitzverhältnisse. Was dem Toten gehört hat, geht in den Besitz anderer über, sein Hab und Gut ist bloß der kleinste Teil. Das nächste ist der Körper, er gehört denjenigen, die ihn schminken lassen oder nicht, aufbahren oder nicht, beerdigen oder verbrennen. Und dann nehmen sie in Besitz, was der Tote gedacht und gehofft und erlebt hat, selbst seine Erinnerung gehört bald den Angehörigen, im Namen ihrer Liebe, im Namen ihrer Erinnerung. Mir wäre es am liebsten, daß die Leute mich vergessen, wenn ich tot bin.
Es war für ihn die zweite Beerdigung. Er wollte nicht nach der kleinen Schaufel greifen, die in einem Holzkasten voller Erde lag, er wußte nicht, wo der Kranz war, ob er ihn suchen mußte, er wußte nicht, ob er stehenbleiben müßte, da Roberts Eltern ihn noch immer anstarrten. Wie klein sie waren, so viel kleiner als ihr Sohn.
Das regennasse Laub war dunkel, zwischen all den schwarzen Regenschirmen leuchtete ein roter Schirm, darunter geduckt eine ältere Frau, ihr Gesicht konnte Jakob nicht erkennen, sie winkte ihm, mit einer kleinen, mutlosen Handbewegung, geh weiter, du stehst viel zu lange an dem Grab. Endlich erreichten sie den Ausgang, er stieg ins Taxi, endlich fuhr aus dem Bahnhof der Zug aus in die graue, flache Landschaft, Jakob stand im
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