Die Habenichtse: Roman (German Edition)
mit dem verletzten Hinterbein abglitt, mühsam auf die Mauer zukroch, springen mußte, nur ein winziges Stück, das Mauer und Ast trennte, und sie stieß sich ab, schrie noch einmal vor Schmerz auf und sprang hinüber. Auf der Mauer schien sie sich sicherer zu fühlen. Sie leckte das Hinterbein und die Pfote, ließ den Blick nicht von Sara, die noch immer hoch aufgerichtet dastand, starr, übers Gesicht liefen ihr Tränen, aber sie empfand nichts als Entsetzen, etwas, das kalt und schneidend war, während sie Polly sah, die dahockte, fauchte, als Sara die Arme sinken ließ, die kalten Arme, als hätte sie jemand mit weißer Farbe übergossen, weißer, leuchtender Farbe, die ihr den Atem nahm und sie zeichnete, wie damals, als ihr Vater zum Spaß ihren Arm bis zur Schulter in einen Farbeimer gestoßen hatte, damit man sie leichter finden würde, damit wir dich leichter erkennen, und da stand sie. Bückte sich nach dem braunen Pferd, hielt es in der Hand, schleuderte es über die Mauer, aber es war zu spät. Polly zuckte zusammen, kroch einen Meter weiter, entfernte sich von Sara so weit wie möglich. Erst jetzt bemerkte Sara, daß im Nachbarhaus ein Fenster offenstand und die Frau sie beobachtete. Sie gab kein Zeichen von sich, beobachtete nur stumm, es war eine endlose Zeit, bis sie sich weiter hinauslehnte, um besser zu sehen, und dann rief sie – was ist passiert? Brauchst du Hilfe? Sara kauerte im Gras, schlang die Arme um die Schultern. Die Sonne war inzwischen von Wolken verdeckt. Das Gras roch feucht und kalt. Sie schüttelte wieder und wieder den Kopf, rührte sich aber sonst nicht vom Fleck. Da war Polly. Sie wollte zu Polly etwas sagen, sie wollte sich entschuldigen, Polly zu sich locken, um sie zu trösten, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund, und Polly klagte jetzt leise, ein gleichmäßiger, unaufhörlicher Ton. Sara hörte es, dann beugte sie den Kopf und erbrach sich, einmal und noch einmal, gelben, bitteren Schleim, der im Gras einen gelben Fleck machte und bitter roch, ihr Magen tat weh, sie preßte die Hände auf den Bauch und wagte nicht, zu schluchzen, schluckte die Tränen, kauerte sich ein bißchen weg von dem Gestank, hob den Kopf nicht mehr. Gleich würde die Scham kommen. Dave, wenn er käme, würde sofort wissen, was geschehen war. Er würde gehen, ohne sie anzusehen. Er würde nicht wiederkommen. Irgendwo war Polly. Alles war still. Vielleicht starb sie jetzt. Vielleicht würde sie, Sara, auch sterben. Es war kalt geworden. Dann kamen erste Tropfen, dick, eisig. Sie bewegte sich nicht. Bald war sie durchnäßt, kauerte, spürte nichts mehr, nur ein kurzer Regenschauer, der langsam nachzulassen schien, und das Fenster im Nachbarhaus klapperte, wurde geschlossen. Kurz darauf öffnete sich die vergitterte Glastür, die in den Garten nebenan führte.
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Sie hatten für den Garten keine Verwendung gehabt, da es nur ein langes, schmales Stück Rasen war, eine Wiese inzwischen, die sie nicht gemäht hatten, ein Rotdorn wuchs nahe an der Mauer, die höher war, als Isabelle gedacht hatte. Als sie die Arme ausstreckte, erreichte sie eben den Mauersims, der ihren Fingern keinen Halt bot. So stand sie einen Augenblick, versuchte sich hochzuziehen, rutschte ab. Sie ging wieder hinein und holte einen Stuhl, dessen Beine in der Erde versanken, aber besser war es doch. Nach drei Anläufen fand sie eine Lücke für ihren rechten Fuß und Halt für die Hände, zog sich hoch und glaubte, es geschafft zu haben, als sie abrutschte, erst mit dem Kinn, dann mit dem Ellenbogen gegen die Mauer schlug, der Stuhl kippte zur Seite, und sie fiel ins feuchte Gras. Den Schmerz spürte sie erst, als sie wieder den Fuß in die Bresche schob, die ihm nicht ausreichend Halt bot, Mörtel rieselte heraus, sie bohrte mit der Schuhspitze nach, und endlich konnte sie sich abstoßen, das linke Bein auf den Mauersims schwingen. Am Ellenbogen hatte sie eine Schürfwunde, ein stechender Schmerz, der sich zwischen den Rippen hindurch bis in die Lunge hinein fortsetzte, nahm ihr fast den Atem, er packte sie, raffte beinahe wohltuend zusammen, was die letzten Monate verstreut gewesen war, vage Schrecken und Hoffnungen und Enttäuschungen, die in einem weitmaschigen Netz hängenblieben. Es war zu weitmaschig, die Agentur, ihre Ehe, ihre Zeichnungen, London, Alistair und Jim, die Geräusche aus der Nachbarwohnung. Es kam ihr vor, als müßte sie noch einmal von vorne anfangen, und die Zeichnungen waren ihre einzige Spur. Sie kniete
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