Die Habenichtse: Roman (German Edition)
bei ihr, von dem sie sich verabschiedete, und sie tat, als würde sie Sara nicht sehen. Abends hielt vor dem Haus ein Auto, und ihr Vater stieg aus, nahm sie auf den Arm, ihre Mutter deckte den Tisch, es waren zwei Männer dabei, streichelten ihr über den Kopf, dann wurde sie ins Bett geschickt, und keiner fragte sie, ob sie hungrig war. Sie legte sich in Daves Bett, und obwohl er weg war, erzählte sie ihm, daß sie gar keinen Hunger mehr hatte, daß sie auch dahin wollte, wo es den großen Garten voller Apfelbäume gab. Dave hörte immer zu, das Kissen roch nach ihm, aber am Morgen war es naß, und sie schämte sich, weil sie Angst hatte, ins Bett gemacht zu haben.
Sie stand an der Gartentür und lauschte, ob sie etwas hörte, aber nur Polly strich miauend um ihre Beine und rieb sich an der Tür, weil sie hinauswollte. Die anderen Kinder würden mit Steinchen nach Sara werfen und über sie lachen, weil sie zu kurze Sachen anhatte oder viel zu lange, die Dave früher einmal getragen hatte, und weil sie noch nicht in die Schule ging und weil ihr Vater ihre Haare schnitt, weil er kein Geld fürs Haareschneiden ausgab, nicht für ein Kind. Sie sagte es nicht einmal zu Dave, daß sie immer so bleiben würde, daß sie fürchtete, immer ein Kind zu bleiben wie jetzt, da sie nicht wuchs, da sie klein blieb und in die Hosen machte oder ins Bett. Sie war zurückgeblieben, sagte Dad, und obwohl sie nicht genau verstand, was das bedeutete, wußte sie, daß es sich nicht wiedergutmachen ließ. Es war nicht wie eine Krankheit, die wieder weggehen konnte, wenn sie im Bett blieb und tat, was Mum sagte. Mum sagte ihr auch nicht, was sie tun sollte, und es gab Krankheiten, die nicht wieder weggingen, die so schlimm waren, daß niemand darüber redete. Oder es war keine Krankheit, sondern etwas, das sie getan oder gesagt hatte, und die Kinder wußten es und lachten deshalb, warfen mit Steinchen gegen die Scheibe und zeigten mit dem Finger auf sie, weil sie nichts lernte und nicht wuchs.
Sie preßte das Ohr gegen die Glasscheibe. Polly miaute. Wenn sie den Mut hätte, die Tür zu öffnen und hinauszugehen, wäre es fast so wie bei den Leuten, die nicht in der Stadt wohnten, sondern auf dem Land, wo sie Schafe und einen Hund und sogar ein Pony hatten. Immerhin hatte sie Polly, und sie könnte über das Gras bis zu dem Baum an der Ziegelmauer laufen und sich vorstellen, daß es ein Apfelbaum voller Äpfel wäre und daß Dave käme und sie an der Hand faßte, um weiterzulaufen, in den Wald, zu einem Teich mit einem Ruderboot, in dem Dave sie über den Teich rudern würde. Er hatte versprochen, sie in den Park mitzunehmen, aber er war seit Tagen nicht nach Hause gekommen. Sie berührte den Schlüssel, der in der Tür steckte. Dann umfaßte sie ihn und tat, als würde sie ihn im Schloß herumdrehen. Der Schlüssel ließ sich nicht bewegen. Jetzt versuchte sie es mit beiden Händen, mit aller Kraft, ihre Hände, die heiß wurden, schmerzten, sie rutschten ab, und da war der brennende Wunsch, den Schlüssel umzudrehen, die Tür zu öffnen und in den Garten hinauszulaufen, von der Veranda hinunter, die voller Gerümpel stand, und über das Gras hin zu der Ziegelmauer, wo ein großer Fleck Sonne durch den Baum schien.
Dann bewegte sich der Schlüssel mit einem Ruck, und es gab einen Luftstoß, aber es duftete auch und war warm, wärmer als in der Wohnung, und Polly zwängte sich durch den Spalt, lief die zwei Stufen hinunter, blieb stehen und drehte sich nach Sara um. Auf der Terrasse stand ein Tisch, umgestürzt, ein kleiner Tisch, weil man dort draußen sitzen konnte und essen, jetzt, wo sie einen Garten hatten, es war wie ein Versprechen gewesen, alle vier, die dort zusammensaßen, nachdem Mutters Tante Martha gestorben war, und Dad hatte Sara auf seine Schultern gehoben, um mit ihr in den Garten zu gehen, hatte gesagt, daß sie hier bleiben würden. Alles war voller Versprechungen gewesen, und Sara würde, sobald sie umgezogen wären, in die Schule kommen, hatte Dad gesagt, und dann gab es doch etwas, das alles sein ließ wie vorher. Weil sie nicht wuchs, weil es vielleicht ihre Schuld war. Dave kam nicht mehr. Neben dem Tisch stand ein Stuhl mit drei Beinen, sie sah auch ihren alten Bär Tod, der eines Tages verschwunden gewesen war, Dave hatte ihr dann erzählt, Tod wäre fortgereist, mit dem Zug weit weggereist, sagte Dave, um sie zu trösten, aber da lag er, halb unter dem Tisch, halb unter dem Stuhl, aufgequollen, der Bauch sogar
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