Die Habenichtse: Roman (German Edition)
Jakob strich mit dem Finger über seine Uhr, die halb elf anzeigte, strich über das Glas, unter dem die Zeiger, jeder in seinem Rhythmus, sich bewegten, sichtbar oder unmerklich, und er lauschte zu einem Wohnhaus, aus dessen offenen Fenstern Stimmen klangen. Er dachte an die Gemälde Watteaus, die er mit Isabelle angeschaut hatte, Gemälde, auf denen der Tod nicht sichtbar, aber doch anwesend war, in den grazilen Bewegungen, die die Zeit festhielten für einen unmeßbaren Augenblick, der Vergänglichkeit und Verlust in sich barg. Hier war die Lady Margaret Road. Der weiße Fuchs rannte unter einem parkenden Auto hervor, sprang auf eine Mauer, balancierte darauf entlang und verschwand in einem der Gärten der Countess Road. Im Fenster des Erdgeschosses stand Isabelle, eine Umrißlinie, die sich nicht rührte, vielleicht wartete sie auf ihn, vielleicht hatte sie den Fuchs beobachtet. Jakob winkte ihr, er war sehr glücklich. Sie drehte sich aber um und trat ins Zimmer zurück, ohne ihn zu sehen, und gegen das Licht erschien sie angespannt und schmal.
28
Dave hatte ihr gesagt, daß andere Leute nicht in der Stadt wohnten, sondern auf dem Land, wo jeder einen riesigen Garten mit Apfelbäumen hatte und Tiere, nicht nur eine Katze wie Polly, sondern auch Hunde und Schafe, manchmal sogar ein Pony, auf dem man reiten konnte, wenn man wollte, das man vor einen kleinen Kutschwagen spannte, und dann fuhr man übers Land, an Bächen vorbei und durch Felder, bis man hungrig war und nach Hause zurückkehrte. Alle setzten sich an einen langen Tisch und aßen, bis sie müde waren. Die Kinder gingen jeden Morgen zusammen zur Schule, liefen durch den Garten ans Tor und warteten, bis die anderen kamen, auch auf Sara würden sie warten, und dann zusammen in die Schule laufen, mit ihren Schultaschen und Butterbroten und etwas zu trinken, denn mittags, in der Pause, aßen sie gemeinsam, es gab auch Suppe und Pudding, und dann spielten sie, bis die Glocke läutete. In Windeseile lernte man dort Lesen und Schreiben, erklärte ihr Dave, und dann brachte er ihr ein Heft, gab ihr einen Stift, der aus Vaters Tasche gefallen war, malte Buchstaben auf. Eine Schlange, sagte er, S wie Schlange, S wie Sara, und der Stift war grün, die Schlange war grün, auf den Fingern Flecken, die sie versteckte, die Hände in den Taschen, den Stift unter der Matratze, einen Stift ihres Vaters, grün, und er suchte ihn, suchte. Dann verschwand Dave, mehrere Tage, keiner sagte etwas, als wäre er nie dagewesen, Mum weinte nicht, und Dad lag auf dem Sofa, schlief auf dem Sofa, den halben Tag lang und die Nacht auch, Mum gab ihr in der Küche zu essen, Brot und Käse, den Dave nicht mochte. Er kam nicht.
Mit dem Finger malte sie das S auf die Tischplatte, ans Fenster, nachdem Mum und Dad fort waren, weil sie arbeiteten, in einem Supermarkt Arbeit gefunden hatten, sagte Mum. Sara hauchte gegen das Fenster, malte ein S, das sich auflöste, und draußen war es warm, die Bäume wuchsen, grüne Blätter, dünne Äste, schnurstracks in die Luft hinein oder in den Himmel, der lange hell blieb, so lange, daß die anderen Kinder immer öfter in den Garten kamen, über die Mauer kletterten, aber sie klopften nicht an die Tür, warfen nicht mit Bällen, weil sie jemanden suchten oder sich versteckten und gleich weiter, in den nächsten Garten kletterten. Dave kam nicht. Am nächsten Morgen weckte sie ihre Mutter, schickte sie zu dem Laden unten in der Falkland Street, gleich rechts um die Ecke und ein paar Meter, dahin, wo in den Kisten Gemüse lag, ohne daß jemand darauf aufpaßte, und im dunklen Laden stand ein Mann, der sie seufzend anschaute und sagte, daß sie nicht genug Geld für all die Dinge hatte, die auf der Liste standen. Auf die Rückseite des Zettels malte sie ein S, weil der Mann fragte, wie sie heiße, und er fragte, ob sie zur Schule ginge. Es war falsch gewesen, das zu erzählen, Dave hätte es ihr erklärt, aber Dave war nicht da, und ihr Vater kam und packte sie am Arm, zog sie mit auf die Straße, und sie hockte sich neben die Mülltonnen, weil er gesagt hatte, daß man sie einsperren würde. Durch die Fensterscheibe sah sie drinnen Polly, die einmal auf der einen, dann auf der anderen Fensterbank auftauchte, sich schließlich auf die Sofalehne legte und einschlief. Aus dem Nachbarhaus kam erst der Mann, dann später die Frau, der Mann sah sie nicht, die Frau lächelte ihr zu, aber als sie wieder zurückkam, war sie nicht alleine, ein anderer Mann war
Weitere Kostenlose Bücher