Die Händlerin von Babylon
wollen.«
»Wozu soll das gut sein? Die Götter waren nicht zufrieden mit ihm, darum haben sie ihn zu sich gerufen«, widersprach ein anderer.
»Ich wette, Puabi hat ihn vermisst und von den Göttern abberufen lassen«, meinte eine Frau zu den beiden Männern. »Wieso sollten sie unzufrieden gewesen sein?«
»Stimmt«, flüsterte Chloe kaum hörbar. Cheftu drückte sie fester an sich.
»Seine Aufgabe war es, die Nachkommenschaft -«
»Der En ist tot!«, verkündete ein Priester. »Die Götter haben sich ein weiteres Opfer gesucht und sein Leben genommen. Der En war ein Gefäß ihrer Macht, und in seinem Tod beugt er sich erneut dem göttlichen Willen.«
»Du wirst noch zum Heiligen«, hauchte Chloe.
Cheftu versuchte sie mit einem Blick zum Schweigen zu bringen. Aber sie sah keine Notwendigkeit, sich zu fürchten; offensichtlich hatte man ihnen die Geschichte von Anfang bis Ende abgekauft.
Sie waren frei.
»Das kann ich einfach nicht glauben«, sagte Gilgamesch. »Der En, der doch kerngesund war und, wie du selbst sagst, schon wieder eine Frau gefunden hat, soll heute Morgen nicht mehr aufgewacht sein?«
Der Hilfspriester, der über den Leichnam gestolpert war, nickte.
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
»Zusammen mit allen anderen, Herr. Zum Zwielicht.«
»Wer dient ihm außer dir?«
»Shama, Herr.«
»Puabis alter Kammerdiener?«
Der Hilfspriester nickte.
»Warum ist er nicht zusammen mit ihr gestorben?«, wollte Gilgamesch wissen.
Der Hilfspriester schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Herr. Vielleicht war er ein Abschiedsgeschenk der Ensi Puabi an den En.«
Gilgamesch wandte sich an Rudi. »Der En ist tot?«
»Die Götter hatten verkündet, dass sie ein letztes Opfer verlangen würden«, wiederholte sie. »Wir sind nur ihre Diener, Herr.«
Der neue Lugal brummelte leise: »Als könnte ich das je vergessen«, und baute sich dann vor der Tür zu den Gemächern des En auf. »Öffne sie«, befahl er dem Hilfspriester.
»Shama ... er bereitet eben den Leichnam vor«, wehrte der Hilfspriester ab. »Ich wage nicht, ihn zu stören.«
Gilgamesch legte selbst die Hand auf die Tür und drückte sie auf. Der Geruch schlug Rudi augenblicklich auf den Magen -ein schon halb verwester Leichnam.
Gilgamesch bedeckte Nase und Mund und trat ein.
Fliegen schwärmten durch die Luft.
Shama kauerte auf dem Boden, mit zahllosen Fliegen auf dem gebeugten Rücken, und wiegte sich stöhnend vor und zurück. Je näher sie dem Zimmer des En kamen, desto beißender wurde der Gestank.
Gilgamesch zog den Alten behutsam auf die Füße und ließ ihn von zwei Soldaten aus dem Raum eskortieren.
Dann schauten sie in die Schlafkammer des En.
Der frühere Liebhaber, der gefeierte und beneidete Hohepriester von Ur, lag in seiner Robe auf einer Bahre, bereit, zur letzten Ruhe getragen zu werden. Seine goldenen Zöpfe waren sorgsam zu seinem Knoten gebunden, und das von seiner Macht kündende Diadem thronte hoch auf seiner Stirn. Seine einst vor Leben sprühenden Augen waren matschig. Rudi wagte nicht, den einst so perfekten und nun geschwollenen und wuselnden Leib näher in Augenschein zu nehmen.
Gilgamesch starrte fassungslos darauf. »Das ist doch nicht möglich«, sagte er. »Kidu kann nicht auch noch tot sein.«
»Die Götter haben ihr letztes großes Opfer genommen«, sagte Rudi.
Gilgamesch zerrte sie näher. »Mit Grauen begegne ich dem Tod«, sagte er. »Ich sollte ihn um jeden Preis meiden.«
Rudi versuchte, auf keinen Fall auf den Leichnam des En zu blicken. Kopfschüttelnd betrachtete Gilgamesch seinen früheren Freund. »Seine Leiche verwest so schnell«, stellte er fest. »War er wirklich so verdorben?«
Ein Wurm kroch aus der Nase des En.
Rudi stürzte aus dem Zimmer.
Hinter sich hörte sie eine Tür ins Schloss fallen und Gilga-meschs Worte: »Bereitet auf der Stelle sein Grab vor. In einer Doppelstunde werden wir ihn beisetzen.«
Ningal lauschte Gilgameschs Schilderung, während die wenigen noch übrig gebliebenen Mitglieder des Rates die Köpfe schüttelten. Jetzt konnten ihre Angehörigen beruhigt zurückkehren und der Handel wieder aufgenommen werden, damit Ur von neuem entstand.
Ob Chloe und Kidu wohl schon aus der Stadt geflohen waren?, rätselte Ningal. Schlenderten sie vielleicht in eben diesem Augenblick Arm in Arm am Fluss entlang, benommen vor Erleichterung, wieder beisammen zu sein, wieder frei zu sein? Im ersten Moment hatte sogar der Richter das Gerücht vom Tod des En
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