Die Händlerin von Babylon
Knaben immer zusammen«, bemerkte Chloe. Sie wusste nicht genau, was sie damit meinte, doch das zugrunde liegende Gefühl war Resignation. »Frauen sind dort nicht zugelassen, sehe ich das richtig?«
»Das hat nichts mit Zulassen zu tun«, meinte Kalam. »Es ist schlicht und einfach unmöglich.«
»Warum?«
»Weil es nicht geht.«
»Und warum nicht?«
Fassungslos sah Kalam Ningal an. »Weil Frauen nicht das Haus der Tafel besuchen. Erklär es ihr, Herr. Es geht einfach nicht.«
Ningal sah sie an, und Chloe begriff, dass sie den ersten Bekehrten vor sich hatte. »Chloe hat gestern Abend eingewandt, dass Frauen das Haus der Tafel nicht besucht haben , und nicht, dass sie es nicht besuchen.«
»Aber Herr -«
»Ich werde hingehen«, prophezeite sie.
Kalam schnaubte. »Das lohnt keine weitere Diskussion. Bist du bereit für dein Bad, Herr? Ich muss dem Lugal den Umhang zurückbringen.«
»Entscheidet der Lugal darüber, wer die Schule besucht?«, fragte sie.
»Die Häuser der Tafel«, widersprach Kalam, »sind private Einrichtungen und unterstehen nicht dem Gemeinwesen. Der Lugal ist zwar ein Alter Knabe, aber er ist kein Tafelvater, darum fällt er diese Entscheidungen nicht.«
»Obwohl eine Frau«, wandte Ningal ein, »wahrscheinlich die Erlaubnis des Lugal einholen müsste, wenn sie die Schule besuchen wollte.«
»Herr!«
»Wenn rein theoretisch eine Frau die Schule besuchen wollte.«
»Das ist keine Theorie, über die ... sich auch nur theoretisie-ren lässt!«, rief Kalam aus. »So etwas hat es noch nie gegeben!«
»Wir theoretisieren über alles«, sagte Ningal. »Wenn ein Mensch niedergeschlagen wird, erstellen wir Theorien darüber, wie hoch die Strafe sein sollte. Wir erstellen Theorien darüber, wohin ein Mensch geschlagen werden kann, wie ein Mensch geschlagen werden kann, und wir denken dabei die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten durch, denn nur darum geht es in einer Theorie. Theoretisch könnte eine sprechende Ziege das Haus der Tafel besuchen, wenn der Tafelvater, der Lugal und die Ziege das für machbar hielten.«
»Lieber eine sprechende Ziege als ein Weib im Haus der Tafel!«, ereiferte sich Kalam.
»Ich bin jetzt bereit für mein Bad«, sagte Ningal und folgte der Sklavin hinaus.
»Wegen dieser, dieser . lächerlichen Diskussion komme ich zu spät zu meiner nächsten Verabredung!« Kalam rutschte ge-räuschvoll mit dem Stuhl von seinem Bierkrug weg.
Chloe sprang auf. »Bitte verzeih, dass du dich meinetwegen verspätet hast«, sagte sie. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich weiß, wie peinlich es dir ist, dem Lugal seinen Umhang zurückzubringen. Ich übernehme das für dich. Dann brauchst du dir keine Gedanken zu machen, dass du zu spät kommst oder ihm gegenübertreten musst. Außerdem würde ich mich gern persönlich bei ihm entschuldigen.«
Kalam sah sie zornig an, bevor er seine Lehmtafel konsultierte, auf der wahrscheinlich seine Tagespflichten verzeichnet waren. »Er wird mittags im Sin-Tempel sein. Wenn die Sonne direkt über uns steht«, erklärte er. »Aber du darfst dich nicht verspäten. Der Lugal hasst Verspätungen. Er betrachtet sie als Zeichen von Saumseligkeit, und Saumseligkeit hasst er noch mehr. Richter Ningal und ich werden den ganzen Nachmittag am Gericht bleiben.« Er zog seinen Umhang gerade. »Vermutlich wirst du im Zwielicht wieder hier sein?«
»Vermutlich.«
Kalam rückte seinen Korbhut zurecht und nickte der Sklavin zu. Chloe folgte ihm zum Hoftor und schloss es hinter ihm. Im selben Moment kam eine Sklavin aus der Küche gerannt. »Kalam hat den Rock des Lugal vergessen! Er hat ihn liegen lassen, und er kommt erst zurück, nachdem -«
»Schon gut«, fiel ihr Chloe ins Wort. »Ich werde ihn zurückbringen. «
»Dem Lugal?«, fragte sie entsetzt. »Hast du dich nicht auf ihn erbrochen?«
Chloe merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Natürlich sprach es sich herum, wenn man sich auf den Führer des gesamten Volkes erbrach, und natürlich war das reichlich peinlich. Am besten würde sie den heutigen Tag einfach aus ihrem Gedächtnis streichen. »Ja«, bekannte sie. »Aber ich werde nichts essen, bevor ich den Lugal aufsuche.«
Das Sklavenmädchen zog die Achseln hoch. »Bis dahin ist der Rock wieder trocken.«
»Gut. Könnte ich noch mal baden?«
»Zweimal baden? In zwei Tagen?« Die Miene des Sklavenmädchens ließ deutlich erkennen, dass sie Chloe für anmaßend hielt; tatsächlich murmelte sie auf dem Weg zur Küche, wo sie das Wasser heiß
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