Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition)
Engelchen, rot-weißen Fliegenpilzen, frechen Gartenzwergen, bunt schillernden Vögelchen und lustigen Hunden mit Hüten und Katzen mit Röckchen. Rudolf, das rotnasige Rentier, darf an einem amerikanischen Weihnachtsbaum natürlich auch nicht fehlen, dieser hier hat ein Glitzergeweih und goldene Glöckchen um den Hals. Dazwischen baumeln, ebenfalls ganz im amerikanischen Stil, echte rot-weiße Zuckerstangen, pastellfarbige Fondantkringel und knusprige Spekulatius an roten Bändern. Und: Weihnachtsgurken! Jede Menge Weihnachtsgurken. Ich bin überwältigt. Gleichzeitig schmunzele ich still vor mich hin. Auch wenn Robert vielleicht nichts von einem besinnlichen Heiligabend hält, dieser Baum verrät überdeutlich, dass er mindesten genau so ein Weihnachtsjunkie ist wie Katja.
Eric und Jan haben sich mittlerweile direkt vor der Tanne aufgebaut und kommentieren begeistert die Dekoration.
Eric zeigt mit ausgestreckter Hand auf einen der unteren Zweige. «Ein Hexenhaus und ein Engel, und da is ein grünes Polizeiauto!»
Jan entdeckt auch etwas Besonderes: «Ein Ssneemann mit Zylinder und gaaanz viele Gessenke!»
Robert beobachtet die beiden mit glänzenden Augen, als wäre es sein eigener Nachwuchs. «Später gibt’s dann Bescherung», verspricht er.
Strahlend stürmt Jan auf mich zu. «Oma, Oma, der Weihnachtsmann hat unsere Gessenke hierhingebracht.»
«So ein Schlingel», entfährt es mir verblüfft über diese Wendung, die mich auf eine Idee bringt. Mal sehen, ob Katja mitspielt. Doch sie reagiert nicht auf mein «Psst».
«Das ist ja …», keucht sie plötzlich, als wache sie aus einem Traum auf, in dem sie etwas ganz und gar Unwirkliches gesehen hat.
«Wunderschön, nicht wahr?», presche ich vor und schubse sie leicht an, um ihr zu signalisieren, sich ja nicht unhöflich auszudrücken. Doch zu meinem Erstaunen bemerke ich, wie sie mühsam versucht, ihre Tränen wegzublinzeln und schließlich stammelt: «Eine … eine Coloradotanne!»
«Also mir wurde gesagt, es sei eine Grau-Tanne», korrigiert Robert freundlich. «Gefällt sie dir?»
Sie nickt stumm, als könne ein lautes Wort die Tanne verschwinden lassen, und starrt unverwandt auf den Baum ihrer unerfüllten Weihnachtsträume. Offensichtlich dauert es eine Weile, bis Roberts Erklärung in ihrem Bewusstsein ankommt. «Ja, teilweise werden sie auch als Grau-Tannen bezeichnet», antwortet sie nach einer Weile. «Aber ich bin ganz sicher, dass es sich um eine echte Coloradotanne handelt. Der totale Waaahnsinn.» Sie lässt sich auf das große braune Ledersofa in die roten Samtkissen fallen, wo sie das Prachtexemplar direkt im Blick hat. «Mein absoluter Lieblingsbaum, und wie herrlich er duftet! Dieser ist aber auch ein ganz besonders schönes Exemplar. Wo hast du den gefunden? Wir haben wochenlang die ganze Stadt danach abgesucht.»
«Auf der Christbaumplantage von Schloss Otting, in der Nähe von Odelzhausen. In Amerika ist es ja auf dem Land üblich, sich seinen Baum selbst zu schlagen. Die Amis nennen das
Christmas Tree Hunt
», berichtet Robert, während er uns Getränke anbietet. «Eierpunsch, Wein oder Sekt? Ich kann auch einen selbstgebrannten Obstler von einer kleinen Destille anbieten, falls euch nach etwas Stärkerem ist. Für die Kinder gibt’s natürlich Saft.»
Friedrich ist mit dem Strauß in einer Vase und in Begleitung eines jungen Mannes zurück, den er als Adrian, Roberts Apothekenhelfer, vorstellt.
Die Kinder möchten O-Saft, Katja gerne den Punsch kosten und ich nehme ein Gläschen Sekt. Während wir auf die Getränke warten, finde ich Zeit, mich genauer umzusehen. Das weitläufige Erker-Zimmer ist mindestens so groß wie meine gesamte Wohnung. Den Blickfang bildet eine hellbraune Ledergarnitur mit Knopfpolsterung, wie in englischen Clubs, zu der ein antiker Tisch gehört. Der Raum verfügt auch über einen Kamin aus grauweißem Marmor, in dem aber kein Feuer brennt. Stattdessen umrankt ihn eine Tannengirlande, an der rote Kugeln und goldene Schleifen befestigt sind. Die gleichen Girlanden zieren die drei hohen Fenster und auch die beiden Fenster im Erker, wo eine zweite Sitzecke mit rundem Tisch sechs Besuchern Platz bietet. Überall stehen rote Weihnachtssterne in goldenen Übertöpfen und Teller mit bunten Plätzchen. An der längsseitigen Wand dient eine antike Anrichte als Buffet. Auf durchsichtigem grünem Sternentüll sehe ich kalte Speisen auf goldgeränderten Tellern, Platten und Schüsseln.
«Auf ‹Christbaumjagd›
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