Die Häuser der anderen
Äußeres, wenn sie durch das Kuhlmühlviertel lief; man sollte sie für eine Anwohnerin halten. Es war ein Training im mehrfachen Sinne: Wohlstand war es, was die Zukunft ihr und ihrer Tochter Britney bringen sollte. Darauf arbeiteten sie seit Jahren hin. Das Taunstättsche Haus war dafür ein wichtiges Symbol. Die Verheißung war: ein anderes Leben. Und damit dieser Traum Gaby nicht zur Falle wurde, verhielt sie sich mehr als vorsichtig und überstürzte nichts. Seit Neuestem gab es Schwierigkeiten, aber Gaby würde sie meistern; sie hatte einen Plan. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, öffnete sie aber gleich wieder, als sie es bemerkte.
Ein wenig trabte sie noch auf der Stelle, betrachtete die Glasfront zum Wohnzimmer, darin ihr auf- und abhüpfendes Spiegelbild. Alles war vermauert und begrünt. Wie es innen aussah, wusste sie trotzdem, nämlich aus einem Bericht der Bunten . Sie hatte sich die fünf glänzenden Seiten der Illustrierten so oft angesehen, dass sie sich blind in Küche, Schlaf- und Wohnzimmer zurechtgefunden hätte. Das Wohnzimmer gefiel ihr am besten – es war gigantisch. Tanja Taunstätt und ihre beiden Möpse sahen geradezu verloren darin aus. Auf dem größten, dem doppelseitigen Bild hatte eines der Tiere gegähnt, das hatte Gaby besonders beeindruckt. Wenn sie ein Hund wäre, würde eine solche Pracht sie hellwach halten.
Da man das reiche Paar selten zu Gesicht bekam, hielt Gaby sich über die Klatschpresse auf dem Laufenden. Und selbstverständlich sah sie jede Woche »Talk bei Taunstätt«. Aufmerksam registrierte sie jede Sorgenfalte im Gesicht der Moderatorin, merkte sich jeden lockeren Spruch und jedes Fremdwort. Denn der Taunstätt waren Ausdrücke wie »Dezenz«, die so gut zu ihrem eigenen Haus passten, in die Wiege gelegt worden, während Gaby sie sich mühsam aneignen musste. Doch die Mühe lohnte sich; sie war inzwischen mit einer ganzen Menge ungewöhnlicher Vokabeln vertraut.
»Trauma« zum Beispiel, im Plural »Traumata«, das kam seit einiger Zeit überall vor. Ausschließlich um »Traumata« war es beispielsweise in dem Gespräch gegangen, das Frau Taunstätt nach dem Amoklauf eines Schülers an einer texanischen Schule mit einem Psychologen geführt hatte. Die Talkmasterin und ihr Gesprächspartner hatten den Jungen natürlich verurteilt, vor allem aber seine Eltern, denn die hatten anscheinend einer Misshandlung durch den Onkel tatenlos zugesehen: »Wie lange braucht man, um eine solche Kindheit zu verarbeiten?«, hatte Tanja Taunstätt den Psychologen gefragt und dabei die Augen in gespielter Betroffenheit so weit aufgerissen, wie es das Botox drumherum erlaubte.
»Einen Tag – oder ein Leben«, hatte der Mann geantwortet und bitter gelacht.
Solche Dialoge imponierten Gaby; sie hatten etwas Geheimnisvolles, Undurchschaubares. Sie war nicht in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Mehrdeutigkeit besonders gefragt war; ihre Mutter war früh gestorben, und Gaby hatte ihren Vater, den arbeitslosen Trinker, noch eine Weile bekocht, dann war sie bei der erstbesten Gelegenheit ausgezogen. Damals war sie schwanger und ging zu Walther, der fast mit Sicherheit der Erzeuger war – ein Fehler. Jetzt wohnte Gaby mit ihrer beinahe erwachsenen Tochter in einer lächerlich kleinen Dreizimmerwohnung im ziemlich heruntergekommenen Glätzenviertel, nicht weit von der Straße Am Kuhlmühlgraben. Nach einigen erfolglosen Versuchen, die eigene Wohnung nach Zeitschriftenvorbild herauszuputzen, hatte sie aufgegeben und machte nur noch das Nötigste, während sie bessere Zeiten plante. Ihre Tochter Britney, inzwischen sechzehn Jahre alt, hatte sich anfangs bemüht, ein wenig Ordnung zu schaffen, bevor sie Freundinnen mit nach Hause brachte, aber inzwischen ging sie abends lieber aus, in Diskotheken und Clubs. Gaby erlaubte das, solange sie in der Schule einigermaßen mitkam. Sie war ein tolles Mädchen, hübsch und schon sehr reif für ihr Alter. Sie hatte ihrer Mutter nie vorgeworfen, dass sie bei anderen Leuten putzte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie zankten sich ohnedies selten, und wenn, dann unter vorsichtigen Anspielungen auf ihre gegenseitigen Schwächen, gar nicht wie Mutter und Tochter, eher wie ein altes Ehepaar, das wusste, sie würden morgen ja doch wieder den ganzen Tag miteinander verbringen müssen. Seit Britney klein war, schien sie zu spüren, dass Gabys fester Wille und die Fähigkeit, Pläne zu machen, ihr lebenswichtiger Antrieb waren, und sie unterstützte
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