Die Häuser der anderen
Beerdigung, bei der ich gewesen war, die zweite nach dem Tod meiner Großmutter, ich war aus reiner Neugier hingegangen: Ein prominenter Tierarzt in unserem Viertel, ein Dr. Taunstätt – bei dem wir übrigens nie gewesen waren, viel zu teuer –, war bestialisch ermordet worden, von seinem eigenen Stiefsohn, und meine Mutter und ich gingen mit dem gesamten Viertel die trauernde Witwe besichtigen, eine Aktion, die mir im Nachhinein furchtbar peinlich erscheint. Und an die ich mich dennoch erinnere, weil absurd viele Tiere, vor allem natürlich Hunde, aber auch ein Shetland-Pony, dabei waren – es hatte anscheinend eine Sondergenehmigung von der Friedhofsverwaltung gegeben, oder das Hundeverbot war übergangen worden, ich weiß es nicht. Und nun war ich also wieder unterwegs zu einer Beerdigung, zu der ich nicht eingeladen worden war, wie würde das wohl werden? Ich fröstelte von Zeit zu Zeit trotz meiner vielen Klamotten – nicht wegen der Erinnerungen, nein, einfach, weil es im Schatten noch eiskalt war. Auf halber Strecke konnte ich sehen, dass der Friedhofsparkplatz leer und ich also zu spät war. Ich überlegte. Es gab zwei, drei Cafés, die vielleicht für den Leichenschmaus infrage kamen. Gleich beim ersten Versuch hatte ich Glück. Aus dem Café Schneider kamen zwei schwarz gekleidete Männer, die die Zusammenkunft anscheinend schon verließen; vermutlich mussten sie zur Arbeit.
Ich atmete tief durch, sagte mir, dass ich, seit jeher und von Grund auf, eine mutige Person war und abgesehen davon sowieso nichts zu befürchten hätte, schließlich war diese Rose tot.
Ich trat in den lauten verqualmten Raum, vorbei an der Garderobe, die überquoll vor schwarzen Mänteln und Jacken. Die Gäste – meiner Schätzung nach war kaum einer unter sechzig – saßen in Gruppen um die zusammengeschobenen Tische und unterhielten sich angeregt. Wenn nicht die Farbe der Kleidung gewesen wäre, hätte es sich genauso gut um eine Geburtstagsgesellschaft handeln können. Die Tische mit den gestärkten weißen Decken waren mit Kuchen und belegten Brötchen beladen; es wurde außer Kaffee auch Sekt und Wein getrunken. Ich begrüßte verlegen meine Großeltern, deren Wangen rot waren vom Alkohol und die in der Mitte des Raumes ihre Freunde und Bekannten um sich geschart hatten. Sie schienen sich gar nicht zu wundern, mich zu sehen. Ich suchte nach einem freien Stuhl und setzte mich an den Rand der Runde, um mir die Gesichter der Anwesenden anzusehen. Eine Frau, die ganz allein für sich in einer Ecke stand und ebenfalls unruhig ihren Blick schweifen ließ, fiel mir auf. Sie war groß, aber nicht hager, wie es bei alten Frauen oft der Fall ist. Sie wirkte massiv, ja geradezu stark, und die Art, wie sie ihr Kuchenstück vertilgte, sah nach Arbeit aus. Sie musste ihrem Körper Energie zuführen, das war es, was sie tat; es hätte nicht anders ausgesehen, wenn sie einen Teller ungesalzene Kartoffeln zu sich genommen hätte. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, stellte sie das Essen beiseite und kam auf mich zu. Die Leute machten ihr Platz, schoben sich mit den Stühlen weg, so dass ein Gang frei wurde.
»Sie müssen die Enkelin der Wilds sein«, sagte sie mit der rauen, dunklen Stimme einer Raucherin. Es klang wie ein Vorwurf.
»Susanne Wild«, stellte ich mich vor.
»Maria Rössl. Ich war eine enge Freundin von Rose. In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr?«
Ihre Art, Fragen zu stellen, hatte etwas von einem Bagger, der gründlich die Erde umwälzte, auf der er sich befand.
»Nun, ich weiß nicht recht, ob man es ein Verhältnis nennen kann«, erwiderte ich vorsichtig. »Sie hat uns vor langer Zeit mehrfach zu Hause besucht und Anspruch auf etwas erhoben, das sich im Besitz meiner Mutter befand.«
Frau Rössl lachte kurz und laut auf; es klang, als hätte sie gebellt.
»Da sagen Sie mir nichts Neues.« Sie wartete einen Augenblick und fügte hinzu: »Und was halten Sie von der Geschichte?«
Jetzt war es an mir zu lachen: »Geschichte? Ich weiß nichts von einer Geschichte. Genau genommen habe ich nicht mal eine Ahnung, worum es da ging.«
»Tja«, sagte Frau Rössl resolut. »Man sagt ja immer, die Toten nehmen ihre Geheimnisse mit ins Grab, aber in diesem Fall haben Sie Glück. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, worum es hier geht. Ihre Mutter hat schwere Schuld auf sich geladen.«
Es war der letzte Satz, der mich veranlasste, schweigend neben ihr herzugehen, als wir gemeinsam das Café verließen. Meine
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