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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Scheuermann
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Großeltern hatten die Köpfe vorgebeugt und unterhielten sich, und so entschloss ich mich, sie nicht zu stören. Sie würden annehmen, ich sei zurück ins Hotel gegangen.
    Wir gingen bis an den nördlichen Rand des Ortes und dann einen Pfad entlang. In der Ferne sah ich ein einzelnes, frei stehendes Häuschen. Es sah aus wie aus einem Kinderbuch, mit einem schieferfarbenen Satteldach, einem kleinen Gartenzaun mit braunen Latten und Gardinen vor den Fenstern. Während wir darauf zugingen, begann Frau Rössl zu erzählen.
    »Roses Mann hat sich in Ihre Mutter verliebt und ihr etwas geschenkt – etwas, das Rose gehörte. Sie hat es nie verwunden. Er hat es ihr geschenkt, als sie ihm gesagt hat, dass sie aus Davos weggeht, nehme ich an.«
    Ich verstand kein Wort.
    Sie fuhr fort: »Es ist ungehörig, so ein junges Mädchen und so ein alter Kerl. Sie tanzten in den Nachbarorten ganz öffentlich miteinander. Er hätte ihr etwas anderes schenken sollen, es war reine Faulheit, meine ich, aber Rose meinte: Es war ein Zeichen. Jedenfalls nahm er ein Stück aus ihrer Sammlung. Die war damals noch ungeordnet, und er hat wohl gedacht, es fiele ihr nicht auf. Der Idiot. Rose hat es sofort gemerkt. Sie hat die Sammlung nach seinem Tod – er ist ja früh gestorben – dann immer noch erweitert. Aber dass dieses eine Stück gefehlt hat, das hat sie nie verwunden.«
    Als hätte sie ihre Worte genau bemessen, hörte Maria Rössl auf zu erzählen, als wir am Gartentor angekommen waren. Sie zog einen Schlüsselbund aus der Manteltasche, um erst das Tor und dann die Tür des Häuschens zu öffnen. Ich blickte in den Flur und durch die offene Tür in das Wohnzimmer. Es glitzerte merkwürdig, und ich kniff die Augen zusammen. Ich begriff zuerst nicht, was ich sah. Es war normal eingerichtet, normale Möbel, Tisch, Stühle, Fernseher, Sofa, aber alles, wirklich alles vom Heizkörper bis zum Telefontisch und natürlich auch das Telefon selber, war mit kleinen Dingen beklebt, mit – ja, was eigentlich? Ich trat an einen Stuhl und bemerkte, dass es sich um Broschen handelte. Broschen aus Plastik, Metall, Holz, Perlen, gebogenem Draht, Filz. Broschen in Form von Engeln, Schmetterlingen, Vögeln, kleinen Kindern, Teddybären, Blumensträußen, Palmen, Autos, Kerzen, Enten, Giraffen, Büchern, Sektflaschen und und und … Es mussten Hunderte sein, Tausende. Sie war verrückt, dachte ich. Komplett verrückt. Ich ging langsam, wie durch ein Museum, doch anders als in einem Museum profitierte ich nicht von dem Rundgang, im Gegenteil: Diese seltsamen Möbel und Wände schienen mich zu erdrücken. Schon nach kurzer Zeit nahm ich gar nichts mehr wahr, obwohl mir klar war, dass sich, sobald ich länger hinsah, Formen, Farben, Strukturen der Materialien ergeben würden, doch so, wie alles zusammengedrängt war, bildete es ein einziges geballtes Ziel, und das ganze Zimmer, das ganze Haus fühlte sich an wie eine Falle. Mir war heiß, obwohl in dem Haus anscheinend seit Längerem nicht geheizt worden war, und auf einmal bekam ich, bei all der Überladenheit um mich herum, Platzangst. Schwindel ergriff mich, und ich hatte das Gefühl, die Konturen zu verlieren. Es war, als wäre ich aus Versehen in ein impressionistisches Gemälde spaziert, und mein Körper würde sich ebenfalls in kleine, bunte Tupfen auflösen, um gegen meinen Willen Teil dieses Bildes zu werden. Das ist nicht gut, dachte ich.
    Ich hatte wieder Rose vor mir, ihr Gesicht streng und eckig. Vage überkam mich der Gedanke, dass meine Mutter dieser Frau nie im Leben den Mann hätte ausspannen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. »Noch das Schlafzimmer«, drängte Maria, weil ich stehengeblieben war und mich an einem Türgriff festhielt.
    »Nein«, protestierte ich, aber sie schob mich einfach hinein. Die Schlafzimmerwand war gänzlich mit Broschen beklebt, nur in der Mitte war eine etwa handtellergroße, weiße Stelle, eine leere Stelle. Und genau wie in einem Museum, dem ein Exponat fehlt, weil es restauriert wird oder an eine andere Ausstellung verliehen ist, klebte da ein mit Maschine beschriftetes Schildchen. Feen verderben den Tanz, gestohlen , stand da. Ich schüttelte den Kopf. Es schüttelte mich innerlich. Wenn dies Roses Rache sein sollte, dann war sie gelungen. Ich konnte wieder nur den einen Gedanken denken: dass diese Rose verrückt gewesen sein musste. Verrückt und gefährlich und zutiefst unglücklich. Weshalb hatte meine Mutter ihr diese eine Brosche nicht

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