Die Häuser der anderen
ganze Abendessensunterhaltung mit dem Thema »Mit Lebensmittelvergiftung im New Yorker Krankenhaus« bestritten hatte. »Ausgerechnet in New York!«, hatte sie immer wieder gerufen. »Du weißt ja, wie das ist – diese Zustände! Und zwei Wochen später wäre meine Auslandskrankenversicherung abgelaufen.« Wäre sie in Heidelberg in der Klinik gewesen, hätte sie über die ganze Sache kein Wort verloren. Anne hatte das damals nicht begriffen und sich lustig gemacht – jetzt verstand sie es; jetzt, wo sie sich noch ein halbes Jahr, nachdem sie ihre kleine Wohnung bezogen hatte, dabei ertappte, wie sie dachte: »Ich bin beim Friseur. In New York.« »Hier, endlich zu Hause, in meinem Apartment. In New York.« Oder eben jetzt, aus aktuellem Anlass: »Ich bin unterwegs zum Treffen mit meiner besten Freundin, um etwas Dramatisches zu diskutieren. In New York.« Es klang unglaublich. Irreal. Herrlich.
Nun – herrlich in diesem speziellen Fall vielleicht nicht.
Anne wurde von einer älteren Frau überholt, vielleicht fünfunddreißig, vielleicht vierzig, Anne verschätzte sich da gern; die Frau wirkte sehr damenhaft, was sie aber nicht davon abhielt, mit kriegerischem Gesichtsausdruck in ihr Handy zu brüllen. Gekleidet in einen beigen Wollmantel, vermutlich Kaschmir, hohe, gelbliche Lederstiefel und ein unglaublich schönes, bordeauxfarbenes Schultertuch, sah sie für Anne aus wie die typische New Yorkerin – aber das hatte nichts zu sagen, denn Anne bedachte so ziemlich jede Person außer sich selbst mit diesem Etikett. Die Frau bemerkte Anne kaum, was sollte es sie auch kümmern, dass da eine Zwanzigjährige aus Deutschland aufgewühlt auf dem Weg ins Cliff’s war. Anne konnte ihr Parfüm riechen, als sie dicht an ihr vorbeiging. Ihr dunkler Pagenkopf wippte wütend. Anne überlegt, ob ihr Pferdeschwanz nicht doch zu kindlich war. Sie würde Rebecca fragen. Dann betrat sie das Cliff’s . In der Bar war es dunkel wie immer, und sie entspannte sich. Sie würde gegenüber Rebecca nichts zu ihrer Frisur sagen, sie würde von gar nichts sprechen, was nicht unmittelbar mit Tante Luisa zu tun hatte. Hey, come on , keinen kümmert hier dein Skalp, Schwester.
Sie sah sich um, kontrollierte ihr Handy, und im selben Moment betrat Rebecca die Bar, eine unauffällige zarte Person mit einem Kurzhaarschnitt, der sie gleichzeitig sportlich und lesbisch aussehen ließ, was sie beides nicht war. Sie umarmten sich, Anne empfand dieses perfekt aufeinander abgestimmte Hereinkommen als tröstlich. Sie registrierte, dass ein paar Jungs sich nach ihnen umdrehten – auffällig rasch aber wieder wegschauten. Sie halten uns für ein Paar, dachte Anne belustigt.
Anne und Rebecca hatten sich beim Sky Yoga auf dem Dach des Coles Sports Center kennengelernt – das einzige Mal, dass Rebecca hingegangen war. Das Interesse war beidseitig und stark gewesen, und Anne, die zuerst wie alle anderen geglaubt hatte, Rebecca stünde auf Frauen, hatte sich für ein paar Abende lang überlegt, ob sie sich in ihrem Alter wirklich schon so ganz auf Männer festlegen sollte. Das hatte sie Rebecca Monate später erzählt, und die lachte es, wie so vieles, einfach weg – einer ihrer zahlreichen liebenswerten Wesenszüge. Rebecca sagte Sachen wie: »Er hat dich blöd von der Seite angequatscht, na und? Hier bist du, Anne Temper, kein kleines Mädchen mehr, sondern eine taffe Frau, der man nicht so leicht ein X für ein U vormachen kann. Lass dich von so einem blöden Tutor doch nicht verunsichern.« Bevor sie Rebecca – Becky – kennengelernt hatte, war sie sich in der Stadt aber tatsächlich ständig vorgekommen wie ein kleines Mädchen, das sich von allem um sie herum beeindrucken ließ und verzweifelt versuchte, etwas zu finden, worüber sie sich lustig machen konnte. Inzwischen war dieser Zustand viel, viel seltener geworden, wenn auch nicht ganz verschwunden. Vielleicht will ich das auch gar nicht, dachte Anne. Kommt nicht alle Unzufriedenheit davon, dass viele Menschen gar nicht mehr bemerken, was sie um sich herum eigentlich alles besitzen ?
Sie setzten sich an den Tisch in der dunklen Ecke, der gerade frei geworden war. Rebecca, die einundzwanzig war, aber jünger aussah, bestellte Gin Tonic und musste der Bedienung, einer bildschönen jungen Frau mit magentarotem Haar, ihren Ausweis zeigen. Daraufhin konnte Anne, die älter aussah als die zwanzig Jahre, die sie zählte, dasselbe nehmen und wurde in Ruhe gelassen. Rebecca schaute hinter
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