Die halbe Sonne
für das Vergessen. Unter der Schneedecke in seinem Inneren ruht die Vergangenheit – unberührte Gegenstände, entschwundene Zusammenhänge. Das Dasein ist erstarrt. Eine hastige Bewegung und das Meublement würde zu Pulver zerfallen.
In den letzten Jahren denkt der Sohn darüber nach, ob es so vielleicht im Gehirn des Vaters aussieht. Immer größere Teile des Bewusstseins werden beeinflusst. Er, der einst Weltmeister im Halten improvisierter Reden war, kann nunmehr kaum einen ganzen Satz zusammenbringen. Schon nach wenigen Worten verliert er den Faden, spricht über etwas anderes oder verstummt. Die Gedanken zerbröseln bei Berührung. Wenn er den Mund öffnet und Luft hineinwirbelt, werden die Worte wie Salzkörner zerstreut. Manchmal sieht man ein sanftes Flehen in seinen Augen, als befände sich der Vater tiefer im Körper und müsste mit ansehen, wie sich die Schale, in die er sich verwandelt hat, anders verhält, als von ihm gewünscht. Der Sohn fragt sich: Ist der Vater in einem Eispalast gefangen? Oder selbst der Palast?
Depeschen aus dem Limbus
VORHER. In den Monaten vor dem Unfall verändern sich die Telefonate. Dem Vater fällt das Sprechen schwer, seine Worte verlieren nach ein paar Atemzügen den Schwung. Stattdessen legt die Mutter den Hörer an sein Ohr. In der Regel werden die letzten Neuigkeiten mitgeteilt, manchmal liest der Sohn etwas vor. Mal eine Novelle von Clarice Lispector, mal etwas Eigenes. Von Zeit zu Zeit vergewissert er sich, dass sein Publikum zuhört. Wenn er wissen will, ob er weitermachen soll, brummt der Vater »Ja-aa« oder »N-mm«. Ein paarmal schläft er ein. Als der Sohn auflegt, hat er das Gefühl, dass die Atemzüge noch irgendwo dort verweilen, im Limbus der Leitungen.
NACHHER. Nach dem Unfall spricht der Vater nie mehr. Gelegentlich formt er ein Wort oder einen Ausruf, oder er murmelt leise und eigentümlich. Mehr bringt er nicht heraus. Die Medikamente dimmen die Beleuchtung im Bewusstsein, bis er in einem permanenten Zwielicht ruht. Trotzdem reicht es, das Zimmer zu betreten. Augenblicklich erkennt der Vater die Bewegungen und weiß instinktiv, welches seiner Kinder ihn besucht. »Arr ...«, stöhnt er mit dem Rücken zur Tür. Oder »Tho-oo ...«
F wie in Feind
Im nachhinein bedauert der Sohn, dass er die Krankheiten des Vaters niemals als andere Formen des Seins betrachtet hat. Stattdessen hat er sie als Besatzungsmächte gesehen. Erst kam Oberst Parkinson, dann General Demenz. Beide entsandten ihre Truppen, die das Gehirn infiltrierten und langsam, aber sicher das Nervensystem ausschalteten. Trotz des Zitterns und der Verwirrung blieb der Vater selbst jedoch intakt, wenngleich unterdrückt und am Ende eingesperrt. Wenn sie sich unterhielten, war es undenkbar, nicht davon auszugehen, dass er noch irgendwo hinter der Front lebte, so selbstverständlich und unerwartet wie immer.
Doch der Vater wurde nie belagert. Wenn die Medikamente sich weigerten zu wirken, hieß dies nicht, dass der Feind die Pfade abgeschnitten hatte, auf denen Nachschub eingeschmuggelt wurde. Statt sich den Vater als besetzt vorzustellen, hätte der Sohn die Verwandlung begleiten sollen. Vielleicht lebte er im letzten Abschnitt seines Lebens in einer Welt, in der Worte und Erinnerungen wirbelten wie Flocken in einer Schneekugel, ohne Richtung und Schwerkraft. Vielleicht ließ ihn der Körper im Stich. Aber bedeutet dies, dass er weniger er selbst war als früher? Der Sohn fragt sich noch immer, was er darüber gelernt hätte, wer man alles sein konnte. Denkt: Der Erzfeind ist das fehlende Verständnis.
Der Mann mit den Vögeln
Die meisten Leute, mit denen der Vater während seiner Jahre in Schweden oder nach seiner Rückkehr nach Griechenland in Kontakt steht, lernt der Sohn irgendwann kennen. Nach der Pensionierung kommen jedoch neue Bekannte dazu. Für diese ist er weder Aus- noch Einwanderer, Vater oder Großvater, sondern afendikó – ein kultivierter »Herr«, der am liebsten die Hände auf dem Rücken verschränkt. Vermutlich fühlt er sich im Kontakt mit Personen, die seine Geschichte nicht kennen, frei. Er braucht sich nicht auf dem Drahtseil zu zeigen oder den örtlichen Messias zu spielen. Es reicht, im Hier und Jetzt zu leben.
Der in einem Athener Basar gestrandete Kreter ist ein solcher Mensch, der Mann mit den Vögeln ein anderer. Der Vater sieht ihn zum ersten Mal an einer U-Bahn-Station, wo er heiße Maronen kauft und beteuert, es dürften ruhig auch die verkohlten
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