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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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sein. Aus irgendeinem Grund bleibt ihm die Bemerkung in Erinnerung, und als er den Mann ein paar Tage später im Park entdeckt, unterhalten sie sich. Er erweist sich als ein pensionierter Bahnhofsvorsteher. Da ein Schwager des Vaters den gleichen Beruf hatte, bis er eines Nachmittags auf einem Vorortbahnsteig Knall auf Fall das Zeitliche segnete, haben sie mehr Gesprächsstoff als üblich. Die Zeit vergeht. Kurz bevor sie sich trennen, bringt der Vater das Gespräch auf die Kastanien. Statt zu antworten, zerkrümelt der frühere Eisenbahner einige, schnalzt dann mit der Zunge. Augenblicklich sammeln sich die Tauben des Parks. Picken auf der Erde, flattern an Jacketttaschen – und lassen sich auf Armen, Schultern, Kopf nieder. Am Ende ist er von Tauben bedeckt.
    »Ein Vogelsignalmast.«

Der erste Essay über Hände

    Die Hände des Vaters können zärtlich sein, geballt werden und zuschlagen. Zu den Zärtlichkeiten und Schlägen kommen wir später. Die geballte Faust benutzt er noch im hohen Alter. Aber ihre Bedeutung wechselt mit den Jahren. Wo die geschlossene Hand auf dem Foto des Jungen vor dem Zweiten Weltkrieg »Freiheit oder Tod« verkündet, signalisiert sie auf den Instamaticbildern aus den frühen siebziger Jahren in Holzschuhen und Jeans Solidarität. Bei den Fotos der folgenden Jahrzehnte von Abschieden im Spätsommerlicht hat die Person mit der Kamera immer noch das Geräusch von Reifen im Ohr, die über Kies rollen. Hinter den Hibiskussträuchern folgt der Blick des Vaters dem Taxi. Seine Hand hat er gehoben und zur Faust geballt. Die Geste bedeutet: »Auch wenn du fort bist, halte ich dich in meiner Hand.«
    Nur ganz zum Schluss, als er im Krankenhausbett liegt und die rechte Hand krampfhaft geschlossen ist, bedeutet die Geste alle drei Dinge gleichzeitig.

Gutachten über die Liebe

    An einem Sommertag toben auf der Veranda zwei Söhne von Verwandten. Was als Versteckspiel beginnt, entwickelt sich zu einer Rauferei, die in einem offenen Streit endet. Der ältere reißt den angespitzten Stock, mit dem der jüngere kämpft, aus dessen Hand und richtet ihn auf die Brust des Bruders. Unmittelbar bevor er etwas tut, was er später bereuen würde, geht der Vater dazwischen. Er packt die Jungen am Handgelenk. Als sie nicht aufhören, zu spucken und zu fauchen, hebt er warnend den Zeigefinger.
    »Drei Zentimeter. Weiter ist es nicht bis zum Herzen.«

Rotverschiebung

    Manchmal überrascht der Vater mit unerwartetem Wissen. Im Dunkeln auf der Veranda sitzend, zeigt er zu den Feldern und Hainen hinüber. Ein Nachbar geht mit einer zitternden Taschenlampe in der Hand den Weg hinab. Je weiter entfernt der Lichtkegel fällt, desto roter scheint er zu werden – sein umgekehrtes Nachglühen. Leise spricht der Vater das magische Wort »Rotverschiebung« aus. Der Sohn schweigt. Jahre später wird er sich fragen, ob der Vater auf diese Art Abschied nimmt.

Politik, I

    Auch wenn er nicht immer Zeit hat, die Zeitungen zu lesen, müssen sie gekauft werden. Ein Blatt für jede politische Richtung, sieben Tage in der Woche. Wenn gegen Abend nur noch eine oder zwei Zeitungen unter der Markise des Kiosks hängen, rollt der Vater sie umgehend zusammen, sobald er das Geld hinübergeschoben hat. Niemand soll erkennen können, wem er sich verbunden fühlt. Die unabhängige Haltung hat Vorrang vor der Parteifarbe, obgleich seine grundsätzlichen Sympathien unerschütterlich bleiben. Wenn er sich im Sommer in seinem Heimatdorf aufhält, kommt die Lokalzeitung dazu. In ihr steht immer etwas, was Einblicke in die Moral der Bauern gewährt. Während der Nachrichtensendungen im Fernsehen bleibt seine Tür geschlossen. Verwandte, die zu Besuch sind, müssen sich mit ihren Wehwehchen in Geduld üben. Sofern er es nicht vorzieht, während der Siesta zu schlafen, läuft außerdem das Radio. Nachrichten sind wichtig. Und Nachrichten, das heißt immer Politik.
    Der Vater kommentiert selten Sachfragen, es sei denn, es geht um Gesundheit oder Bildung. Er vertritt Werte, diskutiert aber lieber über den Lebenswandel und Charakter der Politiker. Die einzige Person, über die ihm nie ein böses Wort über die Lippen kommt, ist der Gesundheitsminister – ein Mann mit ruhigem Blut und klaren Gedanken, der sich dafür einsetzt, dass die Widerstandskämpfer des Zweiten Weltkriegs offiziell rehabilitiert werden, aber schon mit fünfundfünfzig Jahren stirbt und eine Lücke hinterlässt, die nie ausgefüllt wird. Die anderen hält er für mehr

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