Die halbe Sonne
Fußboden ): Die neigt sich dem Ende zu. Sollen wir ins Bett gehen?
ZWEITER SCHATTEN: Ich verstehe nicht.
ERSTER SCHATTEN: Ich meine, bald werden sich die Mücken auf uns stürzen. Bist du nicht müde?
ZWEITER SCHATTEN: Die Mücken, müde? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
ERSTER SCHATTEN: Ich denke nur, wenn man müde ist, könnte es eine gute Idee sein, ins Bett zu gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.
ZWEITER SCHATTEN: Es ist immer gut, ins Bett zu gehen. Aber es ist nicht immer gut, ins Bett zu gehen, wenn man seinen Sohn trifft.
ERSTER SCHATTEN: Papa, ich bin doch gerade angekommen. Wir fahren erst in drei Wochen wieder nach Hause.
ZWEITER SCHATTEN: Das sagst du.
ERSTER SCHATTEN: Aber es ist wahr. Soll ich dir hochhelfen? Komm, wir gehen ins Bett.
ZWEITER SCHATTEN: Weißt du, das alles interessiert mich wesentlich weniger als du.
Morgen ist auch noch ein Tag
Am nächsten Tag gibt der Sohn bekannt, dass er sich taufen lassen will. Der Vater, der kein Kirchgänger ist, schreckt davor zurück. Ist es nicht ein bisschen zu früh, um auf ein Leben nach diesem zu vertrauen? Was will er mit Kirchenliedern und Weihrauch? Der Sohn fragt, ob er sich keine anderen Gründe für eine Taufe vorstellen kann. Der Vater ahnt Tricks und Theorien, dann spürt er da und dort in seinem Körper Blumen sprießen. Ghamó tin mána , der Sohn will orthodox heiraten! Die Neuigkeit berauscht und erheitert ihn, macht ihn zu einer Säule aus Jubel – dann hält er inne. Aber das geht doch nicht ... Wenn die Taufe in seinem Heimatdorf stattfindet, wird der Pfarrer erfahren, dass er seinen Spross niemals hat taufen lassen.
Plötzlich weiß der Vater nicht mehr ein noch aus. Freude und Scham schließen ihn kurz. Erst bei einem Telefonat mit einem guten Freund findet er eine Lösung. Der Freund ist in jungen Jahren in die USA ausgewandert, wo er an der Westküste klassische Sprachen lehrt. Jeden Sommer besucht er jedoch die Roma im Nordwesten seines Heimatlandes. Ihn interessieren die Sitten und Gebräuche des fahrenden Volks, er ist Pate von etwa zwanzig Kindern. Ein weiteres mit Straßenstaub in den Adern wäre ihm nur willkommen.
Die Formalitäten sind schnell geklärt, und eine Woche später kann der Mann sein neues Patenkind vor einer byzantinischen Kapelle in seiner Heimatregion in Empfang nehmen. Neben ihm stehen drei Priester – einer älter als der andere. Lange Bärte, blasse Haut, große Nasen: Der Sohn denkt, es müsse sich um verkleidete Schicksalsgöttinnen handeln. Gemeinsam sind sie mindestens dreihundert Jahre alt. Im Zwielicht der Kapelle wischt eine schwarz gekleidete Frau den Fußboden. Vor dem Altar steht eine Tonne aus glänzendem Blech. Während die Geistlichen die Papierarbeit erledigen, füllt sie diese mit Wasser.
Das einzige Problem, das die Männer der Kirche sehen, betrifft den Taufnamen. Auch mit dem besten Willen der Welt sind sie nicht fähig oder willens, den griechischen Kriegsgott als christlich zu betrachten. Dass es sich dabei außerdem um den nom de guerre handelt, den der Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg angenommen hat – ein Kommunist und Revolutionär –, sagt ihnen auch nicht sonderlich zu. Der Vater scharrt mit dem Fuß, murmelt etwas über andere Traditionen. Dann erzählt er, dass der Sohn noch einen zweiten Vornamen nach einem königstreuen Großvater hat ... Die Priester atmen auf. Umstandslos beschließen sie, den Sohn in umgekehrter Reihenfolge zu taufen.
Anschließend fordern sie ihn auf, Uhr und Brille abzulegen. Als die Zeremonie beginnt, stehen er und der Pate nebeneinander. In regelmäßigen Abständen beantworten sie die heruntergeleierten Fragen der Geistlichen. Dabei hält der Pate den gedruckten Text hoch, aber ohne Brille und mit bloß rudimentären Kenntnissen der alten Schriftsprache fällt es dem Sohn schwer, mitzukommen. Seine Lippen führen ein wunderliches Eigenleben. Zu verstehen, was er da murmelt, ist völlig ausgeschlossen. Insgeheim fragt er sich, ob das Gesagte wirklich zählt.
Schließlich bittet man ihn, sich hinter einem Vorhang umzuziehen. Mit einem langen Hemd bekleidet steigt er in das frisch angeschaffte Taufbecken. Die Priester übergießen ihn mit Wasser und schneiden ein paar Haarsträhnen ab. Der Vater kann nur mit Mühe ernst bleiben. Vor ihm kauert ein erwachsener Sohn, während der Pate seine Glieder mit Öl salbt. Die Hälfte des Wassers schwappt heraus, ehe das Ritual beendet ist. Als der Sohn sich aufrichtet, denkt der Vater:
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