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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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miteinander bringen konnte, grübelt darüber nach, warum ein Sechzehnjähriger sein Heimatdorf verlässt. Weil es zu klein ist? Oder weil es zu groß ist? Weil jeder jeden kennt? Oder weil keiner keinen kennt? Weil er das siebte und letzte Kind ist und das letzte immer seinen Willen durchsetzt? Oder weil er gut in der Schule gewesen ist und sich die meisten Geschwister bereits in der Hauptstadt aufhalten? Weil er seine Tage nicht auf den Feldern und die Abende nicht in Cafés verbringen möchte? Oder weil bald der Bürgerkrieg ausbrechen wird, und wenn es etwas gibt, was er sich nicht wünscht, dann, in die Konflikte zwischen den Familien hineingezogen zu werden? Weil er es sich trotz allem nicht verkneifen kann, seine Ansichten zu vertreten und zum Ärger des Vaters dabei ist, sich politisch neu zu orientieren? Oder weil er der Meinung ist, dass man das Königshaus durchaus verehren kann, an einer gerechten Umverteilung des Landes aber dennoch nichts auszusetzen ist? Weil es wie unter der deutschen Besatzung um eine Frage von Freiheit oder Tod geht? Oder weil er zu jung ist, um zu verstehen, warum Worte nicht ausreichen? Weil er nur ein Junge ist? Oder weil er es nicht lassen kann, unbedingt ein Mann sein zu wollen?
    Der Sohn findet keine befriedigende Antwort darauf, warum ein Sechzehnjähriger an einem Herbsttag in der Vergangenheit sein Heimatdorf verlässt. Er weiß nur, dass es zwischen den angeführten Gründen Widersprüche gibt. Zum Beispiel dazwischen, dass der Dorflehrer so einzigartig gut war, und der Frage, warum es trotzdem lebensnotwendig erschien, das Gymnasium in der Hauptstadt zu besuchen. Zum Beispiel zwischen der Verwandten, die den Vater »Ärmster« nennt, und ihrem Bruder, der nicht mehr genannt wird. Zum Beispiel zwischen der Zeit vorher und der Zeit nachher.

Mit anderen Mitteln

    DER GESTERBTE: Ich weiß nicht, was du da zu tun glaubst, mein Sohn. Aber in diesen ... Legenden erkenne ich mich nicht wieder. Kleine Umschläge? Ozeanische Gefühle? Ärmster? Das soll ich sein? So kann ich mich selbst unmöglich sehen. Ich bin, der ich war, ich war, der ich bin. Nicht deine Mosaiksteinchen, sondern die Fugen zwischen ihnen. Nicht dein Laub, sondern der Stamm und die Äste. Empfinden das nicht alle so? Was in einem Menschen Mensch ist, ist das, was ihn zusammenhält. Du musst dir ein zu einem Faden gezwirntes Adernetz vorstellen.
    Übrigens wird ein Mensch nicht weniger Mensch, nur weil das Blut aufhört zu kitzeln. Dann setzt er sich in anderen Menschen fort. Das ist das Leben, mit anderen Mitteln geführt.

Material für einen Vater

    DER GESTERBTE: Wenn ich es recht bedenke, machst du dich gut als Ikaros – du entstellst einen ja wie ein Kreter. Willst du, dass die Leute ihren Glauben an mich verlieren? Ich war ein Vater aus gewöhnlichem Bauholz (Pinie, nicht Birke). Sowohl stark als auch schwach. Sowohl gewaltig als auch vage. Wie eine Sonne. Oder ein Patriarch. Ein Pinienpatriarch! Manchmal herrschte Trauer in meinem Herzen, manchmal Revolution. Aber meistens war ich hungrig, neugierig, märchenhaft. (Frag deine Mutter.) Bei den Wörtern bevorzugte ich die einfachen: Fuß, Muskel, Weg ... Bei den Gefühlen die vielschichtigen. Die Sehnsucht war ein treuer Hund. Während der Jahre im Ausland schlief ich mit meinem Heimatdorf unter dem Kissen – flach wie ein Kieselstein, samten wie eine Wange. Wäre ich ein Tier, müsstest du dir eine Kreuzung zwischen einem Hahn und einem Tiger vorstellen. (Deine Geschwister sind Bär, Löwe und Delfin mit etwas Entenmutter darin, aber du, mein Sohn, du bist immer ein herrenloser Köter gewesen, unmöglich zu führen.) Vierzig Jahre lang arbeitete ich zu viel, zwanzig fürchtete ich die Banken. Zehn Jahre hatte ich Probleme mit dem Herzen, fünf Jahre mit Därmen und anderen Teilen der Apparatur. Zwei Jahre lang konnte ich kaum gehen, ein Jahr lang nicht sprechen. Aber mein Körper gehörte auch deiner Mutter, also beschwerte ich mich nie. Bei den Zahlen bevorzugte ich die 1, bei den Buchstaben alle. Zeit meines Lebens war Raum für mich wichtiger als Zeit. Jetzt weiß ich nicht länger, was ich sagen soll. Meine Träume waren Evangelien, meine Albträume Apokryphen. Ich machte viele Fehler, stritt mich jedoch niemals vor den Kindern. Wenn ich müde war, wurde ich fürsorglich oder sorglos. Das Nachmittagsnickerchen war das einzig Heilige, von dem ich etwas wissen wollte. Und die Erinnerung an Verwandte. Bei den Farben hielt ich mich an die satten. Die

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