Die halbe Sonne
Schulheft heraus. Erst fünf Stunden später bittet er seine Frau, die Telefonate durchzuwinken, die sich in den Leitungen angestaut haben. Während er zuhört, genießt er die Abendsonne. Er brummt. Er strahlt. Er sitzt auf einem frisch gelegten goldenen Ei.
2. Als die Mutter nach dem Mittagessen gähnend die Arme reckt, führt der Vater sie ins Schlafzimmer. Sie lacht, sie protestiert. Sollten sie nicht zuerst den Tisch abdecken? Sobald sie zwei Stunden später eingeschlafen ist, schleicht er sich in Unterhose grinsend hinaus. Er würde sich wünschen, dass ihn auf dem Weg zur Spüle jemand sehen könnte. Dreiundsechzig Jahre. Aber an der Apparatur ist nichts auszusetzen.
3. Kommt ein Kind – beispielsweise der Sohn – zu Besuch, schert sich der Vater nicht um Verpflichtungen. Er winkt abwehrend, wenn er an Termine oder Telefonate erinnert wird, nickt zum Wohnzimmer hin, schließt hinter dem Eintretenden sorgsam die Tür. Auf die Couch herabgesunken breitet er die Hände aus, seine Augen schimmern wie Fischschwärme. »Was gibt es Neues bei dir?«
Fanfare
Der Vater lässt sich oft hinreißen. Es spielt keine Rolle, ob er Verpflichtungen nicht mehr erträgt und zum Befreiungsschlag ausholen muss oder von der unbändigen Lust gepackt wird, das Leben zu feiern, einfach weil es existiert. Das Ergebnis ist das gleiche: Das Dasein explodiert. Etwa, als der Sohn mitten in der Nacht ankommt und am nächsten Morgen viel zu früh von einem Orchester geweckt wird. Aus den Boxen strömt in höchster Lautstärke die Internationale. Ein ungeduldiger Vater klopft an, ruft lachend zum Frühstück. Er ist niemand, der seine Freude über den Besuch für sich behalten will.
Wirklich nicht.
Der gleiche Stamm
Es ist einer der ersten Frühlingstage, Regen trommelt auf die Veranda. Sie unterhalten sich schon lange, haben sich auf verschlungenen Wegen von einem Thema zum nächsten bewegt. Auf einmal wird der Sohn übermütig und äußert sich herabwürdigend über eine Person, die sich mit ähnlichen Dingen beschäftigt wie er selbst, aber erfolgreicher ist. Der Vater lauscht ruhig, ohne zu unterbrechen. Anschließend sagt er mit erhobenen Augenbrauen, die weitere Einwände verbieten: »Sprich niemals schlecht über einen Kollegen. Ihr seid vom gleichen Stamm.«
Mysterium, Teil eins
Zu den Kollegen des Vaters gehört ein Ehepaar – er Mikrobiologe, sie Neurologin mit dem Spezialgebiet Spracherwerb. Neben dem Philologen mit den Patenkindern bei den Roma steht ihm dieses Paar besonders nahe. Während der Siedlerjahre auf Kreta übernachtet er meistens bei den beiden, während seine Frau und die jüngsten Kinder in Athen wohnen. Der Vater freut sich über die Gesellschaft, er entdeckt eine Seite an sich, die in der Zeit im Ausland zu kurz gekommen ist. Seine Freude lässt sich zum Teil auf den Gebrauch der Muttersprache zurückführen. Plötzlich entdeckt er, wie beharrlich er das Griechische vermisst hat. Überwältigt von den Jahren, die verstrichen sind, spürt er, dass »Sonne« endlich wieder Sonne bedeutet, »Straßenstaub« wieder Straßenstaub. Als er seine Familie unter einem Dach versammelt hat, verbringen die Paare viel Zeit miteinander. Als die Freunde ein lang ersehntes Kind bekommen, werden er sowie seine Frau, die Tochter und der Sohn Paten. Jeden Sommer besuchen ihn die Freunde in seinem Geburtsdorf.
Mit den Jahren sieht man sich jedoch seltener und in den letzten gar nicht mehr. Manchmal äußert sich der Vater schroff, zuweilen abwertend. Die Gründe werden nie genannt, auch wenn es gängige Auffassung wird, dass es schwer ist, Menschen zu ertragen, die laufend Aufmerksamkeit fordern. Wer darüber nachdenkt, gewinnt den Eindruck, dass damit die Neurologin gemeint ist. Was früher Licht und Aufmerksamkeit war, wird Wolke, Rauhreif, Scherben. Dennoch wirkt die Reaktion trotzig, vielleicht auch übertrieben. Zerfallen Freundschaften so nicht eigentlich nur zwischen Teenagern, nicht aber zwischen Erwachsenen? Die Jahre vergehen. Mit der Zeit werden die unergründeten Beleidigungen zu den Akten gelegt. Für viele bleiben sie ein Mysterium.
Zur Frage der Traumata
Als der Vater kein ausländischer mehr ist, sondern nur noch Vater, nimmt die Neurologin den Sohn beiseite. »Es ist merkwürdig«, sagt sie. »Er macht Sprachfehler, die nicht mit seinen Jahren im Ausland zusammenhängen. Kleine systematische Irrtümer. Weiß du, ob ihm als Kind einmal etwas zugestoßen ist?«
Frauenzimmer
Der Vater hat drei
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